Auf einem der ersten Bundesparteitage an dem ich teilnahm, hörte ich ab und zu den Ausruf „Ich bin ein Proxy!“. Einige Piraten ergänzten dies vor oder nachdem sie eine Frage oder eine Gegenrede zu einem Antrag formulierten. Der Sinn der Sache ist schlicht und einfach: Diese Piraten haben über jemand anders, der vielleicht nicht da sein konnte, aber den Parteitag über den Stream verfolgte, die Frage bekommen. Der betreffende Pirat vor Ort übernahm dann freundlicherweise die Frage und stellte sie dann vor. Ähnliches geschah nicht nur bei Fragen, Pro- und Gegenreden, sondern auch bei der Stellung von Anträgen.
Unser Problem
Wir haben in Neumarkt einen Basisentscheid beschlossen. Der kommt jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht in Fahrt.
Zuvor hatten wir eine Installation des LQFB-Systems am Laufen, bis dieses aufgrund mangelnder Zuverlässigkeit in Betreuung und Weiterentwicklung nicht mehr tragbar war.
Andere Systeme, wie beispielsweise Pirate Feedback, konnten die Lücke ebenfalls bis heute nicht füllen.
Kein System, sieht man mal von BPTArguments ab, entsprach zudem den Ansprüchen an moderne, interaktive Webangebote und Apps, wie sie heute üblich sind.
Systeme und Verfahren, wie die, die in anderen Ländern wie Schweden, Australien oder Island zum Einsatz kommen, geistern ab und zu auch durch die Diskussion. Und da bleiben sie auch. Denn von einem haben wir zu viel: Leute, die viel reden, aber niemals diskutieren oder Ausgleich und Kompromisse herbeiführen wollen.
Wovon wir zu wenig haben, sind Leute, die einfach machen und ausprobieren. Und sich erst danach, nachdem sie es hingekriegt haben, erzählen lassen, dass es nie funktionieren wird.
Wir werden irgendwann ein tolles System haben. Vielleicht ist es genau das, woran die Schweizer gerade werkeln. Vielleicht ist es aber auch etwas anderes. Oder vielleicht sind es auch mehrere Systeme, die gegenseitig in fruchtbarer Konkurrenz stehen werden. Als ich Freiberufler bzw. Gesellschafter einer kleinen Software-Firma war, gab es einen besonderen Leitspruch. Dieser trifft auch hier zu: Kunden warten nicht!
Viele ehemalige Piraten haben uns nicht wegen dem Gestänker und der Unterwanderung der Linken verlassen. Sie haben uns verlassen, weil wir das Versprechen auf direkte Beteiligung mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts nicht nur nicht eingehalten haben, sondern auch weil wir unfähig waren, die vorhandenen Systeme anzupassen, zu reparieren und dann weiter zu betreiben. Die jetzigen digitalen Mittel zur Mitbestimmung in der Piratenpartei werden inzwischen sogar von CSU-Ortsvereinen überholt! Der bayrische (!) Staatsminister Söder (!!) von der CSU (!!!) fördert aktiv die Online-Mitbestimmung von Bürgern. Während die Piratenpartei gleichzeitig weiterhin verzweifelt an einer Expertise des CCC gegen Wahlcomputer hängt und dabei stehen bleibt.
GTFO!
Wir verfangen uns in unnötige Diskussionen und Polemik. Die Diskussionen um Wahlcomputer und die Möglichkeiten der Wahlfälschung und der Manipulation mögen bitte in die Mailingliste CCC-Debatte geschoben werden. GTFO damit!
Piraten sind erfinderisch und sie lösen den gordischen Knoten. Wir brauchen jetzt eine Lösung. Nicht erst morgen, wenn wir das perfekte System haben, welches uns dann ein bislang unentdeckter Weiser, der aus seinem Elfenbeinturm entstieg, in feierlicher Materunde übergab.
Mein Piraten Proxy
Ich schlage bis dahin ein simples System vor. Der aktuellen, wenn auch schon etwas älteren Mode folgend, nenne ich es einfach „Mein Piraten Proxy“. Wer bis hierher las, wird sich schon denken, woran ich denke. Aber eins nach dem anderen. Jeder soll es verstehen.
1. Vielfalt der Systeme
Wir fördern und unterstützen jeden Piraten, jeden Freiwilligen und jeden Entwickler darin, entsprechende Tools zur Mitbestimmung und Mitwirkung, aber auch zur Abstimmung aufzusetzen, sie zu entwickeln und sie innerhalb und außerhalb der Piratenpartei zu bewerben. Lasst uns nicht auf ein System versteifen. Hören wir auf, darüber zu streiten, welches System das Beste ist. Lasst jeden das System nutzen, welches ihm oder ihr am Liebsten ist! Das für eine Zeit lang beste System möge in seiner Zeit gewinnen. Es ist egal, welches. Die Systeme sollen nur ein Ziel verfolgen: Mitbestimmung fördern! Anträge verwalten und diskutieren lassen und innerhalb der jeweiligen „System-Community“ auch Abstimmungen oder Prioritätseinstufungen ermöglichen.
Jedes System kann und soll selbstständig seine eigene Community an Teilnehmern aufbauen. Die Teilnehmer entscheiden selbst „mit ihren Füßen“, ob das jeweilige System taugt. Diese Entscheidung ist bereits selbst eine Form der Mitbestimmung.
Dadurch, dass wir kein System bevorzugen, keine Prioritäten setzen, keine Entscheidung von oben erlassen, geben wir den Teilnehmern die eigene Entscheidungsfreiheit zurück. Und ja: Wer LQFB wieder haben will, der möge es eben neu aufsetzen und pflegen.
Vor meinen Augen sehe ich gerade den Gilb der Aluhelme hektisch tanzen. Damit sich dessen gesundheitliche Schäden nicht noch weiter auswirken, schiebe ich nun ein paar wichtige Rahmenbedingungen nach:
Natürlich erhält keines der angedeuteten Systeme Zugang zu den Mitgliederdaten der Piratenpartei. Und natürlich ist jeder, der ein solches System nutzt, freiwillig dort und muss dann den dortigen Bedingungen zustimmen. Die Betreiber der Systeme haben die Möglichkeit, Trolle auszusperren. Und es gibt auch kein Anspruch auf Nutzung und Zugang zu irgendeinem speziellen System. Denn keines der Systeme wird „das“ offizielle System der Piratenpartei sein. (Denn das offizielle System wird ja erst in Zukunft erscheinen um sich dann als besser und geiler als alle anderen zu erweisen. Alternativ könnte sich auch herausstellen, dass eines der Systeme sich als so gut und cool erweist, dass man eben dies offiziell übernimmt.)
Der jeweilige Betrieb erfolgt entweder privat oder durch nicht dem Bundesverband weisungsgebundene Untergliederungen, Crews oder AGs.
Die einzige Möglichkeit zur Nutzung der Parteiressourcen wäre es, das PirateID-System als Möglichkeit zur Authentifizierung bereitzustellen. Gleichwohl sollte eine Förderung durch positives Feedback und Werbung durch offizielle Stellen erfolgen. Man könnte beispielsweise monatlich die besten Systeme küren oder bemerkenswerte Diskussionen oder Vorgänge in den jeweiligen Systemcommunities aufgreifen und von offizieller Seite bewerben.
Dies ist dann auch die wichtigste Handlung, die seitens des Bundes erfolgen muss: Aufmerksamkeit zeigen, werben, fördern, anregen! Menschen zum Mitmachen anregen, egal wo. Den Aktiven beistehen, ihnen Mut zusprechen, ihren Wert anerkennen und da sein.
2. Die Proxies
Keines der oben genannten Systeme wird legitimiert sein, eine Entscheidung für die Piratenpartei herbeizuführen. Hierzu gibt es keine rechtliche oder satzungsgemäße Grundlage. Gleichwohl gibt es eine Alternative: Piraten, die auf den BPTs als Proxies auftreten werden. Jeder Pirat kann nach freien Willen zum Proxy werden. Dazu bedarf es keines Mandats, keiner Ausbildung und keiner IT-technischen Vorbildung.
Piraten stellen sich für andere als Proxy zur Verfügung. Dies geschieht bereits heute. Der Unterschied ist nun dieses: Anstatt dass man dies für Freunde tut, die einem im rechten Moment eine Mitteilung schickten, schauen sich diese Piraten die verschiedenen Systeme an; sie suchen gezielt nach Anträgen oder anderen Vorschlägen, welche noch nicht durch andere Proxys „adoptiert“ wurden. Dies geschieht nur nicht erst auf dem Parteitag, sondern bereits im Vorfeld, gemäß der satzungsgemäßen Fristen.
Um dies zu unterstützen, wäre es die Aufgabe der Piratenpartei, entsprechende Tätigkeiten als Proxy zu fördern. Beispielsweise könnte man sich vorstellen, dass solche Piraten, die eine zu definierende Mindestzahl an Anträgen aus verschiedenen Systemen als Proxy vorstellen und somit deren Behandlung ermöglichen, eine entsprechende Reisekostenentschädigung erhalten. Schließlich sind sie hier im Sinne der Partei tätig. (Die genauen Modalitäten wären natürlich noch genauer auszuarbeiten.)
Um gleich einen bekannten üblichen Einwand zu entkräften: Nein, dies ist kein verkapptes Delegiertensystem. Ganz im Gegenteil: Dadurch, dass jeder Proxy werden kann und jeder unabhängig davon nur sein eigenes Stimmrecht behält, wird dieses Verfahren erst möglich. Es ist zwar nicht echte Mitbestimmung derjenigen, die zu Hause am Stream bleiben, aber es kommt all diesen Leuten einen Schritt entgegen: Es sorgt dafür, dass ihre Anträge reinkommen. Und zusätzlich wird jeder Proxy darauf hinweisen, ob und mit welchem Ergebnis ein Antrag in welchem System erfolgreich war.
Das ganze ist kein ausgearbeitetes Konzept. Aber es ist ein Wink. Hören wir auf, stur im Stillstand zu verharren und fangen endlich an, das zu tun, was wir eigentlich wollten. Die Piratenpartei wurde nicht dazu gegründet, um ewig nur „Toolwars“ zu führen.
tl;dr
Wir haben noch kein BEO. Wir haben aber andere Möglichkeiten.
Wir haben kreative Menschen, wir haben Chancen, wir haben Ideen. Lasst uns das nutzen. „Geht nicht“ gibt es nicht. Macht es einfach. Niemand muss es erlauben, niemand kann es verbieten.
Es ist egal, wo und wie Ideen und Anträge entworfen und ausgearbeitet werden. Proxys übermitteln diese Anträge und Ideen. Und am Ende entscheiden Menschen.
In der AG Meinungsfindungstool hatten wir ein ähnliches Problem. Dort wollen wir die Diskussionen, die Meinungsbildung im Internet mit Tools optimieren. Denn ohne intensive Diskussion und ohne Abwägen von Argumenten kann kaum eine fundierte Entscheidung zustande kommen – es geht sozusagen um die Vorstufe der Abstimmung.
Auch bei uns war es lange Zeit so, dass sich keine zwei Leute auf ein einzelnes Tool-Konzept einigen konnten, um dann in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Darum möchten wir jetzt, dass die Konzepte miteinander in der Praxis konkurrieren und entwickeln eine gemeinsame Datenbasis namens d!isco (discussion ontology), die die Tools gemeinsam nutzen können, um Argumente zu sammeln. In der Darstellung und den Diskussionsregeln sollen alle Tools größtmögliche Gestaltungsfreiheit haben und durch die Ontologie sind die Tools schon brauchbar, ohne dass eine kritische Masse das Tool nutzt.
Auch hier können die Nutzer „mit dem Fuß“ entscheiden, welches Tool sie am besten finden. Allerdings sind wir ein recht kleines Team und gerade die Umsetzung der Tools und der Datenbasis sind ein dünner Flaschenhals. Falls jemand gerne mitmachen möchte, kann er/sie am Dienstag um 21 Uhr im Mumble vorbeischauen. Vielleicht könnte man so ein Modell auch für Abstimmungssysteme ausprobieren?
Viele Grüße,
Paul
Das klingt nach einem interessanten Konzept. Hättet ihr vielleicht nicht Lust, dass einmal bei uns vorzustellen? Wir bieten euch gerne die Möglichkeit an, einen Gastbeitrag in der Flaschenpost dazu veröffentlichen. Bei Interesse schreibt mir einfach mal an steve@die-flaschenpost.de
Hört sich spannend an Paul. Kann ich mehr darüber erfahren? contact@shortcuttodirectdemocracy.com
Problem: Du schaffst auf diese Art erneut ein informelles Netzwerk, wie es liquid Feedback bildete. Keiner steckt gerne Energie in ein System ohne einen der Energie adäquaten Effekt zu erreichen. Es wird also bei Sandkastenspielen (Trolle können ausgeschlossen werden, wer entscheidet das?) nie auch nur annähernd das getestet bzw. evaluiert werden können was später praxisrelevant wird unter realen Bedingungen.
Ein Wahlcomputerdilemma („es-geht-nicht!“) wird man auch nicht dadurch los dass man diesen Diskurs Richtung CCC auslagert. Der CCC hat es längst analysiert und sagt aus grundsätzliche, also im Prinzip verankerten Gründen „ES GEHT NICHT“. Wenn man mit einem viereckigen Rad nicht fahren kann, wird es auch nichts nützen, wenn man mit verschiedenen viereckigen Rädern unterschiedlicher Größe und Materialität herumexperimentiert, den man kann den Holzweg so nie verlassen. Man wird enden wie der Käptn auf Gilligans Insel.
Eine Onlinebeteiligung kann also
a) niemals legitim für verbindliche Entscheidungen z.B. über Satzung, Geld (Haushalt) oder Kandidaten sein
b) bedarf einer Moderation im Verlauf und einer Endverhandlung im RL, in einer Präsenzveranstaltung, sei es nun eine Vorstandssitzung oder ein Parteitag oder einer Delegiertenversammlung, um sie verbindlich zu bestätigen. Mit Abstimmkarte, Zettelwahl oder dergleichen, also ganz doll analog, unter Aufsicht und zeitgleicher Kontrolle durch anwesende Menschen. Selbst wenn man dabei elektronische Hilfsmittel einsetzt, muss die Finalisierung stets durch nachprüfbare Zettelwahl verifiziert werden, um demokratischen Prinzipien zu genügen und es anfechtungsfest zu machen. Die Zettel schließt man am besten gut weg und schreddert sie erst, wenn die Anfechtungsfristen rum sind.
ALLE Erfahrungen aus Zusammenhängen, in denen man Onlinebeteiligung mit einem größeren und tendenziell unbestimmten Publikum durchführte zeigen, ohne Moderation, und Finalisierung auf Präsenzveranstaltungen wird das nichts, entfalten die Themen und die Beschlüsse keine ausreichende Legitimation (und Publizität, was ja bei politischen Parteien auch wichtig ist). Piraten müssen bitte nicht das Rad nochmal erfinden und dabei nach jahrelangem Experimentieren herauszufinden, dass es zwingend annähernd rund sein muss, um zu funktionieren.
Es gibt erprobte Systeme wie liquid feedback, adhocracy, meinetwegen auch wiki Arguments, passt ein solches für unsere Zwecke an, trennt euch davon dass verbindliche und gleichzeitig anonymisierbare, nachvollziehbare und das Wahlgeheimnis wahrende Ergebnisse dabei ausgeworfen werden können, sondern lediglich ein im Idealfall gut strukturierter Vorlauf für eine Präsenzveranstaltung generiert werden kann, der dann Parteitage effektiver und relevanter macht, mit mehr und fundierteren Beschlüssen zu Themen mit tatsächlicher Relevanz. Dann klappst auch wieder mit dem Wähler.
Politik ganz easy und pseudonym vom Sofa aus mit dem PC zu gestalten, sorry, das wird nie funktionieren und immer eine Illusion bleiben. PC und online-Instrumente können immer nur, wie jede andere Technologie (Telefon, Rundfunk/Fernsehen, FAX, email) auch, ergänzend unterstützen. Auch in einer Piratenpartei.
Hallo Bernd, danke für Deinen sehr wertvollen Post! WikiArguments kannte ich noch gar nicht. hast Du nen Link zu dem Wahlcomputerdilemma-Thema und dem CCC („es-geht-nicht!“)? Deren Analyse würde mich sehr interessieren.
Das Thema an sich ist natürlich schwierig:
Security Requirements
…
Die Präsenzlösung ist eben nicht optimal, da sie je nach Ort unterschiedliche Beteiligungen mit sich führt und eben nicht zu einer guten Repräsentation führt. Insofern bin ich sehr an einer online-Lösung interessiert.
Sobald das ID/Keine Mehrfachstimme-Thema gelöst wäre, würde ich schon sagen, dass alle von Dir oben aufgeführten Möglichkeiten bestehen. Prozesstechnisch kann eine Blockchain-basierte Lösung helfen, dass alles unverfälscht bleibt. Siehst Du da keine Möglichkeiten?
Danke für Deinen Post Wolfgang! Ich stimme Dir zu, dass eine höhere Lösungsorientierung angesagt wäre, kann aber auch die verstehen, die sagen, dass es dann schon die richtige sein muss.
Wie wäre es mit einem erweiterten Modell, das es Parteimitgliedern nicht nur gestattet mitzureden und Input zu geben sondern auch verbindlich mitzuentscheiden? Wie wäre es mit einer Mitbestimmungspartei? Siehe Artikel: https://shortcuttodirectdemocracy.com/die-mitbestimm-partei-als-erste-stufe-zur-direkten-demokratie/
Natürlich bestehen noch keine Systeme und es müssten noch mehrere verwendet werden. Aber auch der Basis der DLT liesse sich da durchaus etwas Passendes schnitzen, komplett dezentral. Und dann wäre eine zentrale Lösung schon möglich.