1974 hatte eine friedliche Revolution in Portugal die Diktatur beseitigt und das Land auf den Weg zur Demokratie gebracht. 1975 wurde nach 7 Jahren Militärherrschaft in Griechenland per Volksentscheid eine demokratische Verfassung in Kraft gesetzt. Spanien wurde 1976 nach 42 Jahren Diktatur wieder Republick. Für diese drei Länder ebnete der Parlamentarismus den Weg in die Europäische Gemeinschaft. Für Griechenland wurde das Ziel 1981 erreicht, Spanien und Portugal folgten 1986. Auch vielen Ländern im zusammengebrochenen Ostblock verschaffte schon die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft Stabilität und Wohlstand, auch wenn die Einlösung des Versprechens 15 Jahre auf sich warten ließ.
Die Türkei, faktisch Beitrittskandidat seit dem Ankara-Abkommen von 1963, kam einer Mitgliedschaft mit den Jahren nicht wirklich näher. Während aus der EWG zuerst die EG und später die EU wurde, zerplatzten im dem Land, das Brücke zwischen Europa und Orient ist, langsam Träume und Erwartungen. Dabei war auch das Assoziierungsabkommen zwischen der EWG und der Türkei die Anerkennung dafür, dass die Armee nach einem Putsch im Jahr 1961 wieder in die Kasernen zurückkehrte. Damals verhinderten die Generäle, dass Ministerpräsident Adnan Menderes die Opposition per Gesetz ausschaltete. Dies war in ihren Augen nicht vereinbar mit ihrer kemalistischen Überzeugung, nach der die Türkei ein moderner, demokratischer, nach Westen orientierter Staat sein sollte.
Geprägt hatte dieses Staatsbild Kemal Atatürk, der das abgewirtschaftete Sultanat nach dem 1. Weltkrieg zu einer Demokratie westlicher Prägung umbaute. Die demokratischen Strukturen und die strenge Trennung von Staat und Kirche brachten die Türkei auch nach 1967 dem Ziel der Mitgliedschaft jedoch nicht näher. Wikipedia schreibt über diese Zeit: Linke und rechte Terror-Aktivitäten nahmen zu und die Wirtschaftslage verschlechterte sich rapide. 1971 griff die Armee, ohne zu putschen, erneut in die Politik ein. Unter dem militärischen Einfluss wurden repressivere Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung durchgesetzt. Tatsächlich geputscht wurde dann 1980, als extreme Parteien am rechten und linken politischen Rand, nur einig im Ziel die Demokratie der Türkei zu beseitigen, das Land zunehmend destabilisierten.
Drei Jahre später kehrte die Türkei erneut zur Demokratie zurück, allerdings sicherten sich die Militärs für die Zukunft einen großen Einfluss auf die Politik. Die angestrebte Mitgliedschaft in der EG rückte mit der neuerlichen Demokratie wieder nicht näher. Während die armen Länder in der EG fürchteten, weniger Hilfen aus Brüssel zu bekommen, wenn die noch ärmere Türkei Mitglied würde, wurde andernorts mit dem in der Türkei vorherrschendem Islam gegen einen Beitritt argumentiert. In der Türkei wuchs währenddessen der Frust über die immer deutlicher zutage tretende Zurückweisung. Für viele Türken war die Gemeinschaft mit anderen europäischen Staaten anfangs Ansporn und Versprechen zugleich. Ein Gefühl das der Ernüchterung wich.
Es war ausgerechnet Recep Erdoğan, der wieder Dynamik in den eingeschlafenen Beitrittsprozess brachte. Zwar ist der amtierende Präsident der Türkei kein Kemalist, er gilt im Gegenteil weder als Freund der Demokratie noch der Gewaltenteilung oder der Trennung von Staat und Religion, doch verschaffte ihm die anhaltende Flüchtlingsbewegung eine gute Verhandlungsbasis gegen Brüssel, wo er auf Visafreiheit und eine Vollmitgliedschaft dringt. In der Türkei selbst zollen ihm selbst politische Gegner Respekt dafür, diesen alten Traum vieler Türken wieder greifbar zu machen.
Die EU-Komission selbst sieht die notwendigen Kriterien für eine Mitgliedschaft dagegen immer weniger erfüllt, da Erdoğan das Rad der Geschichte in der Türkei stetig weiter zurück, statt nach vorne dreht. Folter, staatliche Gewalt, die faktische Ausschaltung der Opposition, Zensur und andere längst überwunden geglaubte Missstände gehören in der Türkei inzwischen wieder zum Alltag. Die Chance auf eine Mitgliedschaft in der EU ist für die Türkei erneut in weite Ferne gerückt. Doch wäre die Türkei nicht die Türkei, wenn das Pendel nicht auch wieder zurück schwingen würde. Eine kluge EU-Politik sollte dann in diesem Augenblick die Gunst der Stunde nutzen und das gewähren, was schon Kemal Atatürk im Blick hatte: Teil der europäischen Zivilisation zu sein.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.
Ich hoffe jetzt einfach mal, dass dieser Artikel schon länger vorbereitet und zur Unzeit veröffentlicht wurde. Ansonsten könnte ich mir nicht erklären, warum ein Artikel über die Türkei HEUTE den Putschversuch von vorgestern und die Entlassung von ~3000 Richtern gestern einfach mal unter den Tisch kehrt und stattdessen Plattitüden wie „das Pendel wird zurückschwingen“ bemüht. Vor dem aktuellen Hintergrund zu fordern, dass der EU gewährt werden soll, „Teil der europäischen Zivilisation zu werden“, also faktisch einen EU-Beitritt zu ermöglichen, ist haarsträubend. Und dieses lahme Fazit ist auch so furchtbar schade, nachdem der Artikel ansonsten durchaus interessant und informativ die Hintergründe der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beleuchtet. Da wäre mehr gegangen.
Nachtrag: Auf Twitter wurde mir gerade zugetragen, das Fazit könne auch so verstanden werden, dass ein EU-Beitritt dann forciert werden solle, wenn das Pendel in der Türkei gerade wieder auf Demokratie schwingt. Das wäre eine interessante Option, aber bitte – DANN SCHREIBT DAS AUCH SO!
Moin, ich glaube ja nicht, dass die Abfolge der Aussagen „Chance in weite Ferne / Pendel zurück / Gunst nutzen“ missverständlich ist, gehe aber gerne auf deinen Vorschlag ein und ersetzte den „Augenblick“ durch das von dir genutzte Wort „dann“.
Was die Erwähnung des Putschversuchs und die gerade stattfinde Säuberungsaktion betrifft: Der Leser wird schon aus der ZEIT, aus der Tagesschau oder von Twitter wissen was gerade in der Türkei passiert. Die reine Erwähung in der Flaschenpost hätte keinen Neuigkeitswert und käme zudem aus zweiter oder gar dritter Hand. Eine Interpretation müsste spekulieren was der wahre Kern dieses seltsam halbherzigen Putsches ist. Auf der einen Seite swürde man erwarten dass Militärs besser planen können, auf der anderen Seite hört man (Achtung, Spekulation), dass die türkischen Streitkräfte schon seit einiger Zeit nicht mehr als Hüter der kamalistischen Türkei taugen. Uns fehlen hier die direkten Kontakte in das Land, um zu dem ,was in den letzten 48h in der Türkei passierte, tiefere Einblicke liefern zu können als sie in Twitterspekulationen zu finden sind.
Moin, erstmal danke für die Korrektur. Nachdem ich den missverständlichen letzten Satz falsch interpretiert habe, bin ich tatsächlich davon ausgegangen, dass die jüngsten Ereignisse schlicht vergessen/übersehen wurden. Ansonsten halte ich es durchaus für legitim und begrüßenswert, dass ihr euch nicht in Spekulationen verstricken wollt. Ich hätte es allerdings geschickter gefunden, auch das wenigestens in einem Satz genauso zu sagen, damit keine Missverständnisse entstehen. Sorry, wenn ich hier ein wenig genau hinschaue, aber damit ist wohl zu rechnen, wenn man sich schon zu einem derart brandheißen Thema äußert 😉
Sorry, aber mann muss doch einmal wieder feststellen, dass die Frage, ob die Tuerkei ueberhaupt einmal Mitglied de EU werden kann, seit Jahrzehnten unbeantwortet ist. Welche Kriterien – ausser des Existierens einer noch sehr neuen Demokratie – waeren denn hierfuer massgebend ?
Die Tuerkei gehoert in den orientalisch-islamisch beeinflussten und gepraegten Kulturkreis und nicht in den europaeisch-christlich-juedischen.
Das ist so und das bleibt so. Einer guten, konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Laendern der EU und der Tuerkei ist dies doch bisher auch nie abtraeglich gewesen.
Wenn die EU meinen sollte, mann muesse trotzdem die Tuerkei zu einer Vollmitgliedschaft bringen, dann wuerde sie die Werte der EU-Gemeinschaft verkaufen. Dies kann nicht sein. Aber Erdogan hilft gerade, dieses Problem zu loesen: die drsstische Abkehr von den letzten noch verbliebenen demokratischen Strukturen in der Tuerkei macht die Entscheidung der EU leichter: Finger weg davon !