Die Briten fremdelten schon immer mit der Mitgliedschaft in der EU. Das Vereinigte Königreich führte seit seinem Beitritt in die damalige EG (Europäische Gemeinschaft) ein Dasein am Rande („I want my money back„, die Sonderregelung für ein Großbritannien ohne den Euro und weiterhin Grenzkontrollen). Auf beiden Seiten des Kanals schwand mit den Jahren die Hoffnung, dass England im gemeinsamen europäischen Projekt eine Ersatzbestätigung der schwindende Bedeutung als Kolonialmacht findet und schwand von „No“ zu „No“, von denen es in der über 40-jährigen Mitgliedschaft genug gab, stetig weiter. David Cameron trieb den britischen Sonderweg auf die Spitze. Nicht England sollte sich an gemeinsame Standards anpassen, nein, die EU solle britischer werden, sonst drohe der Austritt! Der Ministerpräsident bekam in Brüssel die „Reformen“, die er verlangte, doch damit konnte er nun die Abstimmung, gestartet mit dem bedeutungsschwangeren Begriff Brexit, nicht mehr zu einem „Ja“ der Briten wenden.
Während von den Brexit-Befürwortern in ihren Kampagnen Großbritanniens Unabhängigkeit als Vorteil herausgestellt wurde (alleine sei das Land stärker), malten die EU-Befürworter Drohkulissen, in denen durch den weiter entfernten europäischen Markt ein geringeres Wachstum mit vielen Arbeitslosen die Hauptrolle spielte. Letztlich redeten die zwei Gruppen aneinander vorbei, wobei die eine eine Vision präsentierte und die andere vor Risiken warnte. Die Briten stimmten nun für die Vision: Besser unabhängig und bedeutungslos als ein kleines Rädchen unter 28 anderen zu sein.
Nach Auszählung der Stimmen und der Gewissheit über den Austritt müssen die Bedingungen des Austritts verhandelt werden. Der Brexit bedeutet nicht das Ende der EU wie manche fürchten, wie es auch nicht das Ende eines wirtschaftlich starken Großbritanniens bedeutet – jedoch auch nicht die Wiedergeburt der Insel als Wirtschaftsriese, der von anderen Ländern bewundert oder gar gefürchtet wird. Nach dem Austritt werden Länder mit gemeinsamen Abkommen wie beispielsweise die Schweiz (Schengen) oder Norwegen (EFTA) näher an Brüssel sein als London, mit dem nach dem Austritt alles neu verhandelt werden muss. Dabei werden auf Seiten Brüssels 27 Vertreter auf einer Seite des Verhandlungstisches sitzen, während London dann zeigen muss oder kann, ob es alleine tatsächlich stärker agieren kann. Eines wird sich bei diesen Verhandlungen nicht ändern: Englisch wird weiterhin die Verhandlungssprache Nr. 1 in der EU sein. Denn auch wenn nach dem Brexit Englisch nur noch bei den EU-Mitgliedern Malta und Irland Amtssprache ist (zum Vergleich: Französisch ist in drei EU-Mitgliedsstaaten die dominierende Sprache, deutsch gar in vier Ländern Amtssprache). Die Erkenntnis, dass Englisch als Amtssprache Nr. 1 nichts mit England selbst zu tun hat, wird in London Bitterkeit hervorrufen.
Für die EU wird der Austritt Chance und Aufgabe zugleich sein. Chance auf eine „EU der Willigen“, um einen Ausspruch von Gorges W. Bush abzuwandeln. Eine EU ohne einen ewigen Nein-Sager, einem Mitgliedsstaat, für den jedes Abkommen einen eigenen Vorteil bringen muss statt nur in der Summe, quasi unter dem Strich, einen Vorteil für den ganzen Kontinent gibt. Aufgabe, weil es weitere EU-Staaten gibt, die sich am europäischen Tisch satt essen, doch sich ausklinken, sobald es gilt die mit der Mitgliedschaft verbundene Aufgaben wahr zu nehmen. Gut möglich, dass auch diese Länder abspringen, sobald aus Brüssel und Straßburg durch ein klares „out is out“ Grenzen gesetzt werden.
Ob nun existenzbedrohnde Zölle erhoben werden, jetzt, wo es keinen „gemeinsamen Markt“ mehr gibt, ist nicht ausgemacht. Verwerfungen für den Finanzplatz gelten jedoch als sicher. Englands Banken hatten die strengen EU-Regeln stets sehr frei ausgelegt. Ob ein für sich alleine stehendes Großbritannien mit ähnlich viel Nachsicht an internationalen Finanzmärkten rechnen darf, ist mehr als unwahrscheinlich.
Man muss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass die EU-Gegner in Frankreich, Deutschland, Polen, Italien nun ebenfalls nach Abstimmungen rufen und sich im Aufwind sehen. Die Aufgabe für alle EU-Institutionen wird es sein, den Bürgern der verbliebenen Ländern die Vorteile einer starken Union verständlich zu machen. Wenn dies gelingt, kann der Brexit zu einer besseren, selbstbewussteren EU führen: einer Gemeinschaft, die ihre Bürger wieder mitnimmt, statt über sie zu bestimmen.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.
„Die Aufgabe für alle EU-Institutionen wird es sein, den Bürgern der verbliebenen Ländern die Vorteile einer starken Union verständlich zu machen. Wenn dies gelingt, kann der Brexit zu einer besseren, selbstbewussteren EU führen: einer Gemeinschaft, die ihre Bürger wieder mitnimmt, statt über sie zu bestimmen.“
genau sehe ich es auch, nicht jammer weiter an europa arbeiten…,
pirate party of germany, tomas 27793
Das schlimmste am #Brexit ist meiner Meinung nach … das auch heute noch 52% reichen um 48% etwas aufzuzwingen das sie nicht wollen.
Wer schreibt, dass eine Mehrheit (und das sind im Zweifelsfall 50% plus eine Stimme) in einer Demokratie nicht ausreicht, eine bindende Entscheidung herbeizuführen, hat entweder nicht verstanden, wie Demokratie funktioniert, oder ist kein Demokrat.
Übrigens sind die Schweiz wie Norwegen BEIDE sowohl EFTA-Mitglieder als auch Schengen-Staaten.
Da sieht man mal, was passiert, wenn Machtspielchen in die Hose gehen. Aber vielleicht sollte der „Versuchsballon“ auch auf diese Weise platzen. Auch wenn ich noch nicht zu 100 Prozent davon ausgehe, dass der Austritt Großbitanniens jetzt auch wirklich umgesetzt wird, sollte es ein „Weiter so“ in der EU nicht geben. Man muss dringend in vielen Bereichen zu neuen Lösungen kommen, sonst werden sich weitere bereitwillige Nachahmer finden, und das, meines Erachtens dann nicht nur von Rechtspopulisten, die die nationalen Egoismus auf die Spitze treiben wollen, sondern auch von verantwortungsvolleren politischen Geistern, denen die Marktfixierung der EU zu weit geht. Darum kann die Richtung, in die es gehen soll, nicht von Ländern wie Großbritannien bestimmt werden, für die die EU nur ein Marktund Finanzplatz ist und die darum größtenteils mitverantwortlich dafür ist, dass die EU sich so weit von ihren Bürgern entfernt hat. Tatsache ist jedoch auch, dass es genügend politisch Verantwortliche gibt, die bereitwillig den mächtigen Interessenvertretern und Lobbyisten in Brüssel und anderswo weiterhin auf den Leim gehen. Darum sehe ich solche notwendigen Veränderungen der EU trotz entsprechender Lippenbekenntnisse, wie sie von den Vertretern der Gründungsmitglieder der EU nach Bekanntwerden des Brexit-Abstimmungsergebnisses so vollmundig in Aussicht gestellt wurden, noch in sehr weiter Ferne.
lesenswert dazu ist der Newsletter des OMNIBUS für mehr Demokratie
http://tools.emailsys.net/mailing/137/902516/4203123/1245jn5/index.html
Darin u.a.
„Und so ergeht durch den Brexit ein deutlicher Weckruf an uns alle, jetzt endlich demokratische Strukturen zu schaffen, die uns eine direkte Mitbestimmung an der Gestaltung der Welt ermöglichen, damit jeder einzelne Mensch aus seinem Ich heraus die Form des Gemeinwesens mitbestimmen kann und auf diese Weise alle Menschen die Umstände verantworten, die dann auf uns zurückwirken.“
Das ist jetzt in der traditionsreichsten mitteleuropaeischen Demokratie geschehen….dabei kann man mal sehen, wie schnell ein Volk mehrheitlich manipuliert werden kann…
Kaum ausszudenken, was im UK und natuerlich in der dortigen Tabloid-Presse gesagt und geschrieben wuerde, wenn dies in Deutschland passiert waere. Deutschen sagte man doch seit WW II immer wieder nach (haeufig und gern auch seitens britischer Politiker), dass man dazu neige, sich unkritisch und vorauseilend einem neuen Herrscher zu unterwerfen….und ausgerechnet das passiert nun bei den Briten.
Sorry, aber dazu passt nun der Rausschmiss der England-Mannschaft aus der EM…wenn schon Blamage, dann aber bitte richtig….