Das Jahr 2016 geht zu Ende. Politisch war es, aus Piratensicht – die wir ständig bessere Umstände anstreben – ein schlechtes Jahr. In Berlin verloren wir die Sitze im Abgeordnetenhaus und mussten von der menschlichen Tragödie eines erweiterten Selbstmords erfahren. Italien wurde wieder unregierbar, an vielen offenen Grenzen in Europa wird wieder kontrolliert, der Brexit ist beschlossene Sache. Russland entwickelte sich auch 2016 weiter zurück zum “Reich des Bösen”, ein Status, den das Land bis vor 30 Jahren inne hatte – wobei man hier fairerweise faktenfreie Attributionen a la “Die Russen hacken die Wahlen” von realen Schweinereien unterscheiden muss. Die USA bekommen eine neuen Präsidenten der, vorsichtig ausgedrückt, ein zivilgesellschaftlich rückständiges Familienbild mit der machtpolitischen Attitüde des spätkolonialen 19. Jahrhundert verbindet. Und nicht zuletzt China drängt sich unverhohlen immer vehementer in den geopolitischen Reigen der Einflusssphären, der bisher von den USA, Frankreich, Großbritannien und Russland gebildet wurde.
Aber auch andere Länder entwickeln sich eher zurück als nach vorne. In Brasilien wurde 2016 eine Präsidentin von Leuten aus dem Amt gedrängt, gegen die sie wegen Korruption vorging – und deren Verstrickung in die Vorwürfe immer mehr Substanz bekommt. Venezuela destabilisiert sich immer mehr, Mexiko steckt faktisch im Bürgerkrieg. Wir lesen von einem immer rechts-national-konservativer werdenden Polen – ein Weg, den Ungarn schon länger geht. Auch in der Türkei wurden im zurück liegenden Jahre demokratische Errungenschaften massiv zurück gebaut oder einfach abgeschafft. Alleine die Anzahl der inhaftierten Journalisten, der wegen “Terrorismus” verhafteten Politiker und Amtsträger, ja selbst die Anzahl derer, gegen die ermittelt wird, weil sie Kritik auf Twitter äußerten, ist eine Warnung an alle, die mit dem Gedanken liebäugeln einen “starken Mann” zu wählen. Immerhin: In Österreich konnte verhindert werden, dass ein Rassist als Präsident in die Wiener Hofburg einzieht. Auch wenn 53% für Herrn van der Bellen gegen 47% für Norbert Hofer kein glänzender Sieg für die liberale Demokratie gelten, hat sich das Engagement unzähliger liberaler Künstler und Publizisten gelohnt. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: In Österreich waren dies Verteidiger der Demokratie und Freunde der europäischen Idee, die sich aus ihrer Lähmung lösten und etwas verteidigen, das bisher als selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens galt.
Ausländische Studenten sollen Studiengebühren bezahlen, es werden weiterhin Gesetze verabschiedet werden, deren Betitelung immer mehr an Neusprech erinnert (z.B. das Prostituiertenschutzgesetz, gegen das sich die damit “beschützen” Prostituierten kritisieren) und im Umgang mit Flüchtenden führt der Weg in Richtung Abschottung statt Willkommenskultur. Zudem finden offen rassistische Parteien immer mehr Zuspruch. Deren Positionen werden sogar in Teilen der Regierungskoalition befürwortet. Selbst die Grünen oder die Linke sind sich nicht zu fein, so flott auf diesen Zug aufzuspringen.
Das kommende Jahr 2017 droht noch aus anderen Gründen als das “Jahr der Rolle rückwärts” in die Geschichtsbücher einzugehen. Die VG Wort zwingt Studenten zurück an den Fotokopierer, da die an Januar neu gestaltete Abrechnung der Verteilung digitaler Kopien zu kompliziert ist. Ein geplanter, bundeseinheitlicher Presseausweis mit einer aus den Adenauer-Jahren stammenden Vorstellung, wer sich Journalist nennen darf, soll ebenfalls 2017 eingeführt werden – Blogger, Fachjournalisten und Teilzeitjournalisten will man so rauskegeln. Überhaupt verschiebt die Regierung die Bandbreite dessen, was gesagt, gemacht und gedacht wird, in der Zeit ständig weiter zurück – und nach rechts. An diesem verschobenen Rahmen des Denkbaren wird mit Sicherheit die AfD rütteln, um die Verrohung des Landes, der Gesellschaft in ihren Gedanken und Handlungen zu fördern. Im Vergleich zum schönen Europa der offenen Grenzen, wie wir es noch 2014 kannten steht inzwischen das Gegenmodell der de Maizièreschen Grenzkontrolle und der bewaffneten von-Storchschen Grenzsoldaten.
Sicher, Demokratie ist nichts für Heulsusen, sie ist aber auch kein Possenspiel. Eine SPD, die ihre Minister für Gespräche vermietet und Sigmar Gabriel zum Spitzenkandidaten kürt, damit Frau Merkel Kanzler bleiben kann, die Koalition der “schwarzen Null”, die ausgerechnet dort spart, wo ein wenig Geld gut investiert wäre – das hat unser Land nicht verdient.
Dazu bildet sich in der Weltpolitik derzeit eine “Achse der Autokraten” heraus, die das Potential hat, liberale Staaten in die Zange zu nehmen. Es gibt nicht mehr viele europäische Staaten die als Gegenmodell, als etwas, woran man sich moralisch orientieren kann, um besser als Trump, Putin, Erdoğan oder die polnische PIS, die italienische 5-Sterne-Bewegung und Ungarns Fidesz zu sein. Da zerfällt in diesen Jahren etwas in Rekordzeit, das die letzten 70 Jahre für Frieden und in über 25 Jahren für Wohlstand für den Großteil der Bevölkerung brachte. 2016 setzten viele Ländern zur “Rolle rückwärts” an, 2017 werden sie springen.
Dabei lohnt der Blick nach vorne, denn Bewährtes muss erhalten und Neues gedacht werden, um die Zukunft zu formen. Statt 2017 nach Orwellscher Manier ein Wahrheitsministerium (Abwehrzentrum gegen Falschmeldungen) zu schaffen, gehört die Medienkompetenz gestärkt, denn das hilft, Meldungen interpretieren zu lernen. Das war in der alten Bundesrepublik nicht nötig – die Redaktionen von ARD und ZDF waren ganz gut darin die Spreu vom Weizen zu trennen, liesen allerdings sehr oft auch Weizen liegen oder strahlten ihn nur spät nachts aus – doch seit dem Wahlkampf zum Brexit, der Trumpwahl und der Gleichschaltung der Medien in der Türkei, Ungarn und Polen ahnen wir, dass eine mangelnde Pressefreiheit kein Phänomen exotischer Länder sein muss.
Aber es gibt auch 2017 Grund zur Hoffnung: Das Bedingungslose Grundeinkommen findet immer mehr Zuspruch, selbst bei “Konzernbossen” und Politikern der klassischen Parteien. Das Bewusstsein, wie sehr Echokammern und Filterblasen in den sozialen Medien unsere Wahrnehmung beeinflussen, wächst. Deutschland ist, trotz Würzburg, München, Ansbach und Berlin nicht den von bestimmten Regierungskreisen gewünschten polizeistaatlichen Spasmus verfallen.
Schließen wir diesen Ausblick auf das Jahr 2017 mit einem Zitat von Willy Brandt: “Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten”. 2017 braucht es die besonnenen Konzepte der Piraten mehr denn je!
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.
Ich würde dir gerne widersprechen, muss dir aber leider zu 100% recht geben.
2017 wird ein – positiv ausgedrückt – sehr spannendes Jahr.