
Münchner Sicherheitskonferenz 2017 | CC BY 4.0 Michael Renner

Welch eine Vision muss das für die Menschen nach dem 2. Weltkrieg gewesen sein, als sie in zerbombten Häusern saßen. Gottlob am Leben, aber ohne Heizung, ohne Strom, oft auch ohne etwas zu Essen und keine Idee, wie es weiter gehen soll. Ein geeintes Europa ohne Konflikte, Schlagbäume als Relikt einer traurigen Vergangenheit, eine gemeinsame Währung und dazu die Möglichkeit an jedem Ort Europas Dinge kaufen zu können, die am anderen Ende des Kontinents hergestellt wurden. Doch keine 70 Jahre nachdem Europa zum ersten Mal als Gemeinschaft geträumt wurde, verlor diese Vision ihren Glanz. „Frieden? Ja klar, das ist doch normal.“, wird in vielen Ländern gedacht, in manchen laut ausgesprochen, „Frieden, ja gut, aber jetzt sind wir auch mal dran.“, wird in manchen Ländern gedacht, in anderen wird es laut gebrüllt.
Es scheint, als genüge es den Politikern bei der Münchner Sicherheitskonferenz, den Status Quo festzuschreiben. Die Währung, der Markt, ein bisschen Grenzöffnung, das alles muss genügen um Europas Völker nicht mit einer mutigen Visionen für ein Europa in 70 Jahren zu überfordern.
Eine Diskussionsrunde in München bot ein trauriges Bild der Realität. Dalia Grybauskaitė, die Präsidentin aus Vilnius, Frans Timmermans, erste Vizepräsident und EU-Kommissar in Brüssel, Witold Waszczykowski, der Außenminister Polens und Wolfgang Schäuble, deutscher Finanzminister, sprachen über die Zukunft der Europäischen Union: Vereinigt oder geteilt? Dabei wurde nicht nur deutlich, dass jeder unter Europa etwas anders versteht sondern auch, dass jede Vorstellung für „mehr Europa“ fehlt.
Die Präsidentin Litauens wünscht sich eine bessere Verteidigung und von den anderen Ländern mehr Verantwortung für die Sicherheitslage. Eine Aufstockung der Verteidigungsbudgets befürwortet sie sehr, da in dem kleinen Land die Angst vor Russland sehr groß ist. In ihrem Land wird mit Sorge beobachtet wie Russland in Syrien agiert und die Militarisierung in der angrenzenden russischen Exklave Kaliningrad voran getrieben wird. Das gibt zwei Punkte für das Militärische.
Frans Timmermans führt vor allem wirtschaftliche Themen an, wenn er von der EU – einer Gemeinschaft von bald nur noch 27 Ländern – spricht. Für ihn sind die Wirtschaftskrisen Schuld daran, dass der Mittelstand die Zuversicht verlor und den Kontrollverlust beklagt. Das Selbstvertrauen will er zurückgeben – ohne in den nationalen Protektionismus zurück zu fallen. Das ist für Timmermans eine rückwärts gewandte Idee, die Zukunft liegt im offenen Wirtschaftsmodell. Genau so ist es mit der Vielfalt der Gesellschaft, die zu fördern, nicht zu bekämpfen ist. An Großbritannien macht er das Angebot, möglichst wenig Schaden beim Austritt aus der Union zu verursachen. Dass es, wie bei jeder Scheidung, Schaden geben wird, wird dabei aber nicht verschwiegen. Eine sehr interessante Sicht wirft Timmermans auf die radikalen rechten Bewegungen die sich in Europa ausbreiten. Gerade in den Ländern, die von der Finanzkrise am härtesten getroffen wurden, die am meisten Geld verloren und deren Wirtschaft am ärgsten litt, haben die Extremisten wenig Rückhalt. Nicht in Irland, nicht in Spanien, Portugal und Griechenland. In diesen Ländern gäbe es eher Optimismus, da die Bürger Licht am Ende des Tunnels sehen. Dass in Rumänien Menschen selbstbewusst gegen die faktische Legalisierung der Korruption demonstrieren und in Polen Frauen gegen die Beschneidung ihrer Rechte auf die Straße gehen, wird als Beleg eines neuen Selbstbewusstseins angeführt. Wir zählen einen Punkt für die Wirtschaft und 3/4 Punkt für die Bürger.
Der Polnische Minister stellte fest, dass ein Großbritannien außerhalb der EU noch immer Teil Eurpas sei. Der Brexit ist für ihn ohnehin nur eine Laune, entstanden aus der Tatsache heraus, dass viele Briten meinten, die Situation aus Migration und Flüchtlingen nicht mehr aushalten zu können. Der Blick nach Osten bereitet auch in Polen Sorgen. Allerdings begreift das Waszczykowski auch Chance, nicht mehr „Mitglied 2. Klasse“ zu sein, da Polen mit wachsender Gefahr an der Flanke nach Osten eine wichtigere Rolle spielt.
Alles in allem einen Punkt für das Militär und außerhalb der Wertung 1/2 Punkt für den Brexit.
Ob Schäubles Apell „Die Bürger Europas müssen verstehen, warum wir die EU brauchen“ an die Politik oder an die europäischen Gesellschaften gerichtet war, blieb im Dunkeln. Dass das Vertrauen in Europa schwindet, findet er aber so als Problem wie er den Brexit als Weckruf bezeichnet. Doch auch Schäuble will für die Sicherheit mehr Geld zu Verfügung stellen. Immerhin erkennt Deutschlands Finanzminister in Zeiten der Globalisierung und Vernetzung die Notwendigkeit, Erwartungen auch zu erfüllen. Allerdings kann auch er der Versuchung nicht widerstehen, die Vergangenheit zu beschwören, in der uns die Zukunft glänzender erschien als sie heute ist. Für die 18 Länder, die den Euro haben, stellt Schäuble die Verträge heraus, die Regeln, die verteidigt werden müssen. In einer Schwächung der deutschen Wirtschaft sieht er keine Lösung für andere Staaten. In 5 Jahren, so erwartet er, sind mehr Bürger in Europa überzeugt, dass Europa wichtig ist. Schäuble bekommt 1/2 Punkt für die Bürger, mehr gibt es nicht zu verteilen.
Zählt man die Punkte zusammen fällt die Bilanz arm aus. Rüstung überwiegt in den Vorstellungen der Zukunft Europas, die Bürger, die zivilen Gesellschaften können daran kaum anschließen. Was völlig fehlt, ist die Vorstellung, wie es weiter gehen kann. Die Antwort auf Populisten und Rassisten. Eine Antwort auf ein wachsendes Prekariat, auf die Armut im Süden, die der Flüchtlinge, aber auch die institutionelle Enteignung und Entrechtung vom Menschen in Deutschland, die sich abgehängt fühlen. Nicht zuletzt fehlte selbst der kleine Finger, der denen gereicht wird, die mehr Europa wollen. Einen gemeinsamen Pass, eine gemeinsame Regierung, die mehr als Wirtschaftsdaten im Blick hat. Gemeinsame Standards bei Bildung, Ausbild und Studium, um jungen Menschen eine berufliche Zukunft in einer anderen Region, als der, in der sie geboren wurden, zu erleichtern. Und eine Strategie um klar zu machen, warum das der richtige Weg ist. Wie Kennedy sagte „Ich glaube, diese Nation sollte sich dem Ziel verschreiben, bis zum Ende des Jahrzehnts einen Menschen auf dem Mond zu landen und ihn wieder sicher zurück zur Erde zu bringen“ brauchen wir Politiker, die sagen „Ich glaube, unsere Nationen sollte sich dem Ziel verschreiben, bis zum Ende des Jahrhunderts die Europäische Republik zu gründen“.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.
Sorry Herr Renner; die letzten 3 Artikel empfinde ich zum Löwenanteil als reine Hofberichterstattung von der MSC. Will die Piratenpresse Kompatibilität zur Süddeutschen Zeitung oder gar zu Springers Welt herstellen? Wo sind die eigenen Positionen?
Noch dazu ist die Wiedergabe der Inhalte der Redner nicht ganz vollständig. Hat Herr Lawrow, seines Zeichens russischer Außenminister, nicht auch ein paar paar Worte gesagt? Gehört die Sichtweise des Vertreters der gerade neu in Entdeckung begriffenen „Bedrohung aus dem Osten“ nicht ins Portfolio? Ich sage das, obwohl ich definitiv KEIN Putin-Fan bin. Genausowenig bin ich aber ein Fan der seit Jahren betriebenen Ausdehnung der Nato in Richtung Sonnenaufgang. WER bestehende Verträge gebrochen hat, kann man schon im Wikipedia nachlesen:
https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Osterweiterung
Ich würde mir also von den Piratenmedien wünschen, zunächst Fakten allumfassend darzustellen und davon ausgehend zu eigenen Schlussfolgerungen zu gelangen. Mannigfaltig wiedergekäute Sprechblasen, die Beschwörung der für mich eher fragwürdigen, weil verlogenen „westlichen Wertegemeinschaft“ – das alles liefern uns unsere „freien Medien“ tagtäglich zur Genüge. Da ich dergleichen HIER nicht suche, hoffte ich auch, es HIER nicht zu finden.
Aber vielleicht schreiben Sie ja gerade an einem vierten Statement, das meine Kritik verfrüht und überflüssig erscheinen lässt.
MfG – das Seepferdchen.
Liebes Seepferdchen, leider bewahrheitet sich heute wieder eine Erkentniss aus der Mengenlehre: Es gibt keine Schnittmenge zwischen den Lesern die einen Artikel lasen und denen, die einen Artikel kommentieren. Nehmen wir die Europa-Artikel hier als Beispiel. Vier Diskussionsteilnehmer auf dem Podium, dazu kam Philip Stephens von der Financial Times in London. Der letzte Absatz des Artikels, ein sehr umfangreicher Absatz, enthält die von ihnen vermissten eigenen Positionen. Er beginnt mit den Worten „Zählt man die Punkte zusammen fällt die Bilanz arm aus“ und schlägt den Bogen von Populisten und Rassisten über das wachsende Prekariat, Flüchtlingen und dem armen Süden (der EU) über weitere Stationen zur Vision eines gemeinsamen Staats Europa.
Es hätte sich auch gelohnt den Artikel über Merkels Rede bis zum Ende des letzten Absatzes zu lesen – das gilt auch für den ersten Artikel den wir zur 2017-er Sicherheitskonferenz veröffentlicht hatten auch wenn darin die Wertung der Diskussion nicht in einem eigenen Absatz steckt, sondern in den einzelnen Absätzen vorgenommen wird.
Anders als bei der G7-Konferenz letztes Jahr ist die Redaktion der Flaschenpost bei der MSC immer nur mit einem Journalisten vertreten. Die Artikel die erscheinen entstehen als „One Man Show“. Das bedeutet: simultan mitippen was gesagt wird, zu den Pressepools, Reintext schreiben, Fotos machen und nachbereiten und einiges mehr (beispielsweise ganz hinten an der Security-Warteschlange anstellen um von hier nach dort zu kommen. Dazu kommt ein wenig Twitter und 45 Minuten anstehen für ein Statement mit Foto von Aussenminister Gabriel). Das erfordert eine klare Vorstellung davon worin Zeit investiert wird und nicht machbar ist. Artikel zur Rede von Russlands Aussenminister Lawrow findet sich beispielsweise bei der Tagesschau neutral, in der ZEIT (kritisch) und hier jubelnd.
Inhaltlich schliesse ich mich dem ersten Kommentar unter dem ZEIT-Artikel an: armes missverstandenes Unschuldslamm 🙁
Auch wenn ich in diesen Artikel drei Links zu anderen Zeitungen einbaute hoffe ich dass du zur Flaschenpost zurück findest und uns als leser gewogen bleibst.
Nun – ich habe die Artikel schon GANZ gelesen, auch die zitierten Abschnitte, die in der Tat ein paar Prisen zaghafte Kritik am Establishment enthalten. Diese Abschnitte ändern allerdings wenig am „Löwenanteil“, in denen die Aussagen der MSC-Protagonisten weitgehend unkommentiert wiedergegeben werden.
Dann trau‘ mich halt mal aus der Deckung und kommentiere selbst wie folgt:
„Mehrfacher Druck“, unter dem die EU steht:
a) Flüchtlinge aus dem Süden. Maßnahme: Gemeinsam gerechteren Welthandel organisieren. Oops – geht nicht. Das würde ja die Erträge unserer – wie Josef Ackermann einst sagte – „tüchtigen Menschen“ schmälern.
b) Erdogans Türkei-Entwurf. Maßnahme: Wirtschaftssanktionen – ging doch mit Russland auch. Hier kann man das natürlich nicht bringen, weil der schmutzige Deal wg. Druckvektor a) das verhindert – richtig?
c) Putin führt Krieg gegen die Ukraine, gegen ein Land, das an das Nato-Land Polen grenzt. Maßnahme: Nato auf das zurückbauen, was seinerzeit mit Gorbatschow vereinbart wurde. Ach – geht ja auch nicht; die armen Osteuropäer haben ja SELBST darum ersucht, Mitglied im erlauchten Kreis zu werden. Und dem konnten wir natürlich nicht widerstehen. Die Ukraine hätten wir auch gerne genommen, wird sie doch mittelfristig eine ganz herausragende Rolle im wachsenden Geschäft mit Lebensmitteln spielen. Und Bodenschätze gibt‘s dort auch ein paar. Aber nachdem der böse russische Bär mit der Krim-Geschichte Eier gezeigt hat… Das war natürlich eine völkerrechtswidrige Aktion – gar keine Frage. Der Westen hat dergleichen allerdings noch NIE veranstaltet…also abgesehen von ein paar aufgrund alternativer Fakten vom Zaun gebrochenen Kriegen mit hunderttausenden Toten. Dazu haben wir nicht einmal einen Politikclown namens Trump gebraucht. Womit wir zum letzten, aber nicht unwichtigsten Punkt kommen.
d) Trumps USA mutieren zum unzuverlässigen Partner, schlagen gar Brücken zu Putin. Maßnahme: Sich als Deutschland (Europa) vom Gängelband der USA lösen – zumal Trump das auch SELBST vorschlägt. Nutzen wir doch die Chance! Ach geht schon wieder nicht – die Lage ist doch viel zu unsicher. Da lauern der (selbst gezüchtete) islamische Terrorismus, der Bär natürlich und wer weiß, was der Chinese in Zukunft im Schilde führt. Wir BRAUCHEN die USA! Wir MÜSSEN wieder aufrüsten! Es bleibt uns gar nichts anderes übrig. Vor allem verstellen gut gehegte äußere Feindbilder vortrefflich die Sicht auf die eigentlichen inneren Probleme Deutschlands und (von mir aus) Europas, das ich persönlich für längst gescheitert halte.
WO bleibt da der Aufschrei der PIRATEN, diesen Irrsinn nicht mittragen zu wollen? Im ersten Artikel freuen wir uns lieber gemeinsam mit Ursula v.d.L und ihrem US – Pendant Mattis, dass die Nato, entgegen Trumps Äußerungen doch noch nicht am Ende ist und führen den „moralischen Kampf des Westens“ gemeinsam mit Senator McCain. Wenn die Aufrüstung Deutschlands auf dem Felde der Digitalisierung stattfindet, können wir uns als Experten vielleicht sogar einbringen. Herzlichen Glückwunsch!
So und nicht anders verstehe ich den Grundkontext dieser 3 Artikel. Tut mir (nicht) leid. Liegt wahrscheinlich nur an meinem beginnenden Altersstarrsinn.
Der Kommentar von Seepferdchen klingt ziemlich vernichtend, aber ich kenne ihn und weiß, dass er es nicht so negativ meint, wie es wirken könnte. Die Kritik sollte eher als eine Anregung beziehungsweise Ergänzung zum Artikel gesehen werden, denn der große Kraftaufwand solche Artikel allein während der Sicherheitskonferenz zu schreiben, liegt auf der Hand:)
Ich habe den Artikel gerne gelesen und fand die Zusammenfassung sehr interessant.