Eine Kolumne von Ullrich Slusarczyk
Ich habe ein neues Wort gelernt.
Orchideenthema
Das Wort bezeichnet ein Nischenthema, ein ausgefallenes oder seltenes Thema und ist seit den 1990er Jahren im Gebrauch. Und es trifft ganz hervorragend auf die Piratenpartei zu. Wir konzentrieren uns auf einige wenige, eben Orchideenthemen, zum einen historisch begründet und zum anderen, weil da unsere vermeintliche Kompetenz liegt.
Wir sind zwar keine Einthemenpartei mehr, aber wir bewegen uns fast nur in Themenbereichen, die wir seit Jahren bedienen. Und das alles, ohne auch nur einen Millimeter nach rechts oder links zu gucken.
Dabei wäre so viel möglich. Allerdings sind wir jetzt bei den Stiefmütterchen. Stiefmütterchen werden in großer Menge gepflanzt, anders als Orchideen. Und das bedeutet viel Arbeit. Dabei sollte doch schon längst klargeworden sein, dass man mit Orchideen alleine eben keine Wahl gewinnt. Es reicht nicht, das Schlagwort Digitalisierung zu verwenden. Man muss es dann auch mit Leben füllen.
Beispiele
Einer meiner erfolgreichsten Artikel ist wider Erwarten nicht ein Artikel, der sich mit der Piratenpartei beschäftigt, sondern ein Interview.
Nämlich dieses:
Warum ist aber nun ausgerechnet dieses Interview so erfolgreich?
Da wäre z. B. der Pirat auf Twitter zu nennen, der sinngemäß geschrieben hat: Wow, ich wusste gar nicht, dass wir das Thema auch im Blick haben. Da wären aber auch all die zu nennen, die sich nicht ständig in der Piratenbubble tummeln.
Und das ist auch kein Wunder, denn hier handelt es sich um ein Thema, das im Sozial- und Gesundheitswesen zu Hause ist.
Mehr als 5,7 Millionen Beschäftigte, alleine im Gesundheitswesen. Und mehr als 343.000 im Sozialwesen.
Dazu kommen hunderttausend und mehr Stellen, die nicht besetzt sind. Ich würde nicht so weit gehen und die Beschäftigten im Gesundheitswesen „prekär beschäftigte“ nennen. (Unter „prekärer Arbeit“ oder „prekärer Beschäftigung“ versteht man in der Regel Beschäftigungsverhältnisse, die besonders geringen Lohn, keine soziale Absicherung und eine ungewisse Zukunft für den Beschäftigten mit sich bringen.) Aber die mehr als 2 Jahre Pandemie haben die Schwächen im Gesundheitssystem mehr als deutlich zutage treten lassen. Wir sind maximal weit weg von einem Sozialstaat.
Da müssen Ärzte im Krankenhaus 36 Std. Schichten machen. Da lese ich von Herzchirurgen, die 15 und mehr Stunden im OP stehen, und schon 8 Stunden später wieder im Dienst sind. Jeder LKW-Fahrer hätte jetzt inklusive seiner Firma ein horrendes Bußgeld kassiert samt Punkten für den Führerschein, weil er seine Ruhezeiten nicht eingehalten hat und so Menschenleben gefährden könnte.
Interessant, dass für Ärzte und Pflegepersonal, die so direkt wie sonst niemand mit menschlichem Leben zu tun haben und es teilweise buchstäblich in ihren Händen halten, das nicht gilt.
Und wo ist bei alledem die Piratenpartei? Wir haben mit Sandra Leurs nach meiner Meinung eine wirklich gute Vertreterin. Was ich vermisse, sind all die tollen Datenschützer, Digitalisierer etc.
Da müssen Ärzte, um an der Gematik (gemeint ist damit das elektronische System der Telekommunikation und Informatik (Telematik) im Gesundheitssystem) teilnehmen zu können, einen mehr als 600 € teuren Router kaufen. Allerdings, selbst der einfachste Router für 50 – 100 € könnte den Job erledigen. Kapitalismus pur!
Und dann wären da noch die tollen Kartenterminals, die abstürzen, weil die Konstrukteure vergessen haben, dafür zu sorgen, die Geräte zu erden, sodass statische Aufladungen das Gerät nicht abstürzen lassen.
Das Bild stammt von:
https://twitter.com/HyperOpa/status/1483511213631942658
Aber es geht auch noch niedrigschwelliger.
Da wären z. B. die ganzen Gesundheitsämter, die nur via Fax zu erreichen sind.
Und was ist mit dem E-Rezept? Oder gar der eAU. Also der Krankschreibung per Mail?
Wir sind die Internetpartei, die Technikpartei. Und was kommt von uns?
Nichts!
Wir picken uns die Rosinen aus dem Kuchen. Oder pflegen eben unsere Orchideen.
Das Gesundheits- und Sozialwesen beschäftigt mehr als 6 Millionen Menschen. Das sind 10 % aller Wähler!
Im Mutterland des Kapitalismus, der USA, gibt es mehr Pflegekräfte auf einer Krankenhausstation als in Deutschland. Da versucht der Schüler, den Lehrer zu übertreffen. Und wir?
Wir schweigen.
Züchten unsere Orchideen, verachten die Stiefmütterchen, Osterglocken etc.
10 % aller Wähler sind im Gesundheits- und Sozialwesen beschäftigt. Und wie viel mehr sind davon direkt oder indirekt betroffen?
Und das ist nur der Bereich Gesundheit. Im Bereich Energie gäbe es mindestens so viel zu tun.
Der vergangene März ist der sonnenreichste seit mehr als 70 Jahren [1]! Das klingt toll, bedeutet aber leider auch, dass ausgerechnet, wenn die Pflanzen alle erwachen, das Wasser fehlt. Und Wassermangel wird uns die nächsten Jahre immer mehr begegnen. Wassermangel, dafür Sonnenüberschuss. Extremwetter und ein steigender Energiebedarf. So viel, was wir vorschlagen könnten, aber nicht tun. Gigantismus bei der Windkraft und den Solaranlagen, die nur Konzernen nutzen.
In Spanien muss jedes neu gebaute Haus an der Costa Blanca eine Solaranlage haben.
Warum nicht auch in Deutschland?
Zusätzlich eine Kleinwindanlage wie diese: https://www.luvside.de/
Dazu eine Solarstromanlage und eine Speicheranlage im Keller. Orange oder grüne Steckdosen im Haus für Notstrom und medizinische Geräte und auch die Treppenhausbeleuchtung kann an die Speicher angeschlossen werden.
Von der kommenden Klimakatastrophe sind alle betroffen! Das sind 100 % der Wähler.
Es wäre so viel möglich, wenn wir denn wollten.
Stattdessen die Diskussionen über linke Themen und warum die wichtig sind. Ich hab gelernt, dass die Einordnung „links“ geschichtlich gesehen auf die Sitzordnung der französischen Nationalversammlung zurückgeht. Und da saß links die Opposition bzw. die Parteien, die eine Änderung anstrebten [2].
Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, müssen wir gewählt werden. Und das geht nur, wenn wir auch auf die Wähler und ihre Sorgen und Nöte eingehen.
Aber das sind eben die Stiefmütterchen und nicht die Orchideen.
Ullrich Slusarczyk
[1] https://www.zeit.de/news/2022-03/28/sonnenreichster-maerz-seit-jahrzehnten-wetterwechsel
[1] https://www.swp.de/panorama/wetter-im-maerz_-rekord-an-sonnenstunden-und-trockenheit.-wann-kommt-regen_-63441783.html
[2] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/pocket-politik/16547/rechts-links-schema/
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.