Moin Anne, Du bewirbst Dich um den Posten des ersten Vorsitzenden der Piratenpartei im Bundesvorstand. Ich persönlich finde das sehr gut, denn, so meine persönliche Meinung, Frauen sind in der Regel integrativer, wesentlich weniger aggressiv als Männer und darüber hinaus meistens deutlich teamfähiger. Allerdings ist der Posten des ersten Vorsitzenden im Bundesvorstand nicht gleichbedeutend mit absoluter Macht. Die Möglichkeiten sind doch eher beschränkt.
Dazu kommt, dass eine nicht unerhebliche Anzahl an Piraten der Meinung ist, dass der 1V allenfalls zu repräsentieren hat und keinesfalls eine eigene Meinung haben, geschweige denn sie äußern darf. Deinem Lebenslauf kann man entnehmen, dass Du bereits 1V in einem Ortsverband bist und 2V in einem Kreisverband. Das heißt, Vorstandsarbeit ist kein Neuland für Dich und Du bringst bereits Erfahrung mit. Liest man Deine Bewerbung [1] und sieht Dein Bewerbungsvideo [2], wird klar, dass Du eine ganz klare Agenda hast.
Wie glaubst Du, wirst Du diese Agenda durchsetzen können?
Ich sehe die angesprochenen Punkte als Vorschläge, die Partei voranzubringen. Diese müssen in einem künftigen BuVo gemeinsam mit den Landesverbänden, Themenbeauftragten und interessierten Parteimitgliedern erörtert und diskutiert werden. Arbeitsgruppen innerhalb der Partei müssen gestärkt und vom Bundesvorstand unterstützt werden. Was es braucht ist Motivation, Energie, Zeit und gemeinsame Ziele.
Die Piratenpartei ist ziemlich männlich geprägt. Das liegt nicht unbedingt an der Partei selber, sondern auch daran, dass Frauen, sicherlich auch schlechten Erfahrungen geschuldet, sich klar weniger bewerben, obwohl die Anzahl der Frauen insgesamt in der Partei fast gleichauf ist mit den Männern.
Wie glaubst Du, kann man Frauen mehr motivieren oder Ihnen eventuelle Ängste nehmen?
In erster Linie darf nicht ausschließlich bei Frauen angesetzt werden, denn das Problem liegt sicher nicht dort. Es geschieht ja nicht grundlos, dass sich weniger Frauen bewerben. Wir müssen uns ernsthaft fragen, welche Strukturen die gleichberechtigte Wirksamkeit weiblicher und non-binärer Stimmen in der Partei behindern und genau dort ansetzen. Strukturen und Haltungen, die nicht aus- sondern einladen, Menschen ernst nehmen und Abwertungen aufgrund des Geschlechts entschieden entgegentreten, müssen Konsens werden. Für so eine Umgangskultur stehe ich ein und biete Rückhalt und Solidarität – ebenso wie das Piratinnen-FINTA*-Netzwerk.
In zweiter Hinsicht ist es wichtig, an allgemeinen strukturellen Faktoren zu arbeiten, die Engagement von Frauen im politischen Prozess erschweren. Care-Arbeit wird noch immer überproportional von Frauen geleistet, was verhindert, dass Frauen gleichviel Zeit in beispielsweise (in)formelle Netzwerke investieren können und somit weniger Zugang und Einfluss bekommen. Darauf muss bedarfsorientiert mehr Rücksicht genommen werden.
Letztlich möchte ich als Beispiel vorangehen und Frauen empowern, sich ihren berechtigten Platz am Tisch einzufordern. Trotzdem bleibe ich dabei, dass die Hauptlast dieser Aufgabe nicht an Frauen hängenbleiben darf.
In Deiner Bewerbung sprichst Du von einer Neumitgliederkampagne. Das finde ich toll und ist genau das Thema gewesen, mit dem auch ich bei Vorstandswahlen angetreten bin. Ich musste dann relativ schnell feststellen, dass sich das nicht so einfach gestaltet und das Interesse dafür nicht wirklich hoch ist. Du sagst, die Piratenpartei müsse eine „soziale Struktur“ bieten, die zum „mitmachen“ einlädt.
Wie sollte Deiner Meinung nach diese Struktur aussehen?
Wir brauchen zum einen eine offene, gewaltfrei kommunizierende Umgangskultur miteinander und zum anderen einen offenen Informationsfluss zu neuen Mitgliedern. Wenn ich neu in einer Partei bin, möchte ich erfahren, wie ich mich bei welchen Inhalten und Themen, in Strukturen und/oder Aktionen je nach meinen Interessen einbringen kann. Bei der Marina ist festgestellt worden, dass die Bundesebene den Landes-, Kreis- und Ortsverbänden bei dieser Aufgabe unter die Arme greifen sollte – ob nun durch Textbausteine für E-Mails, die dezentral individualisiert werden können, ein Buddy-Prinzip, wie wir es gerade in Dresden praktizieren, oder auch andere Ideen. All das muss gemeinsam evaluiert und entwickelt werden.
Du sagst außerdem, dass es Dir auch darum geht, den Mitgliedern wieder eine „Perspektive“ innerhalb der Partei zu geben.
Wie willst Du das erreichen?
Viele Menschen in der Piratenpartei möchten sehen, dass es vorangeht, dass wir eine Zukunft haben. Viel zu selten wird die Frage gestellt, was Mitglieder überhaupt brauchen, um sich wohl zu fühlen und motiviert zu arbeiten. Ich denke, viele Menschen würden gerne mitwirken, wissen aber nicht wie. Dieses Problem ist mit klarer, transparenter und regelmäßiger Kommunikation lösbar. Wir haben so viele unterschiedliche Kompetenzen in dieser Partei versammelt, die jeden Prozess enorm bereichern können – dafür braucht es neben Motivation auch Koordination und Wertschätzung. Ein weiterer Faktor sind natürlich konkrete Aktionen, bei denen Menschen mit dabei sein können. Durch gemeinsame Arbeitsweise und Einbindung auch von Interessierten von außerhalb der Partei haben wir in Dresden bereits viele Aktive für unsere Ziele gewinnen können.
Du sagst, dass Du zivilgesellschaftlichen Protest organisierst, z.B. gegen Neonazis. Da rennst Du bei mir offene Türen ein. Allerdings finde ich, dass sich die Piratenpartei diesbezüglich viel zu wenig, viel zu leise und vor allem nicht öffentlich dazu äußert.
Wäre das bei Dir anders, und wenn ja, wie willst Du das mehr in den Focus rücken?
Zivilgesellschaftlicher Protest gegen Neonazis ist enorm wichtig, ebenso wie die klare Positionierung gegen Rechtsextremismus in der Gesellschaft und in Sicherheitsbehörden. Aufklärung über und Aufdeckung von rechtsradikalen und -extremen Netzwerken, Forderungen an die Innenministerien sowie Solidarität für Betroffene gehört dazu. Hier in Sachsen sind solche Umtriebe und Strukturen besonders deutlich, aber es gibt sie auch anderswo. Für mich ist es ganz normal, mich antifaschistisch zu engagieren, und das werde ich auch weiterhin tun. Es ist in unser aller Interesse, menschenfeindlichem Gedankengut und Handeln entgegenzutreten. Wer Hilfe und Unterstützung bei der Organisation solcher Proteste braucht, kann sich immer an mich wenden.
Ich bin Jahrgang 1963, im Vergleich zu mir bist Du blutjung. Für mich bedeutet das, dass Dir im Gegensatz zu mir die Zukunft gehört. Allerdings haben es junge Piraten in der Piratenpartei sehr schwer. Das liegt zu einem nicht unerheblichen Teil am Umgang der Piraten untereinander.
Mobbing und Sexismus sind vielleicht nicht gang und gäbe, aber selten sind sie nicht. Dazu kommt eine Diskussionskultur, die wirklich nur die mental stärksten verkraften.
Wie glaubst Du, können wir das deutlich verbessern?
Dazu braucht es mehreres, allen voran eine Reflexion des eigenen Verhaltens. Es braucht klare Prozessregeln und Moderator:innen, die diese durchsetzen. Ich selbst komme beruflich aus der Konfliktmoderation und kann deshalb sehr empfehlen, sich mit gewaltfreier Kommunikation auseinander zu setzen. Es geht um die Form – nicht darum, keine Kritik äußern zu können. Zum anderen müssen wir weg von persönlichen Anfeindungen hin zu fruchtbaren inhaltlichen Diskussionen, die sonst untergehen. Wir in Dresden haben einen sehr freundlichen, offenen und produktiven Umgang miteinander und genau das sorgt dafür, dass wir so gut funktionieren und mit die besten Wahlergebnisse deutschlandweit holen. Wer sich Teilhabe auf die Fahne schreibt und letztlich eine Diskussionskultur hegt, die Menschen diskreditiert und ihnen die Lust am Mitwirken raubt, sollte sich fragen, ob die eigene Parteiarbeit bei den Piraten diesem Wert entspricht.
Du schreibst in Deiner Bewerbung vom Überleben der Piratenpartei. Ich sehe das genauso. Unsere Zustimmung in der Bevölkerung sinkt auf historische Tiefstwerte trotz der Arbeit einiger sehr engagierter Piraten. Engagement ist also nicht alles.
Wie genau willst Du das ändern?
Ich bin sehr froh über die wirklich hart engagierten Pirat:innen im ganzen Bundesgebiet. Wir haben vor allem viele kommunale Mandatstragende und einen Abgeordneten im Europaparlament. Hier gilt es Unterstützung zu leisten. Wir brauchen außerdem koordinierte bundesweite Kampagnen, wo die Expertise vieler Pirat:innen aus den Landesverbänden und von Themenbeauftragten zusammen mit starken Bündnissen zum Tragen kommen muss, damit wir wieder sichtbarer werden. Wir in Dresden haben zur Bundestagswahl 2021 in meinem Direkt-Wahlkreis mit Teamarbeit, Engagement und Aktionen immerhin 0,9 % der Zweitstimmen geholt. Es fehlen jedoch flächendeckende Strukturen, die über gezielte Neumitglieder-Ansprache, Kooperationen und entsprechenden Support wiederbelebt werden müssen.
Wenn man mit Menschen über die Piratenpartei redet, dann heißt es, wir sind die Internetpartei. Und tatsächlich sind wir ja mal aus genau diesem Themenkreis heraus entstanden. Sieht man sich allerdings jetzt in der Piratenpartei um, dann ist diese Expertise gewaltig geschrumpft. Und die, die noch vorhanden sind, schweigen lieber, als sich den ständigen Angriffen von einigen wenigen Piraten zu stellen. Ich kann das verstehen, es geht mir sehr ähnlich.
Wie können wir wieder eine Partei mit wirklicher Expertise werden? Und zwar nicht nur im Bereich Internet?
Expertise baut sich auf über professionelle und kontinuierliche Auseinandersetzung mit Themenbereichen. Dies passiert aber nicht von heute auf morgen, sondern ist eine langfristige Aufgabe für die Partei. Aus dem universitären Umfeld bin ich mit dieser Arbeitsweise vertraut. In der Partei können wir durch interne Weiterbildungen einen höheren Grad an Professionalität erreichen. Schulungen und Weiterbildungen müssen standardmäßig Teil unserer Routine werden. Durch den Einsatz von Neuen Medien sind solche Prozesse auch skalierbar.
Die Arbeit in einem Vorstand ist extrem zeitintensiv. Ich habe das als Landesvorstand selbst gemerkt.
Wie viel Zeit kannst Du für die Vorstandsarbeit aufbringen?
Ich habe das Privileg noch zu studieren und mit Bafög gut um die Runden zu kommen. Da kann ich also Kräfte einsparen. Meinen Minijob kann ich meist sehr flexibel ausführen. Ich kann und werde sehr viel Zeit in den Bundesvorstand investieren, auch weil mein Kreis- und mein Ortsverband mir den Rücken stärken.
2024 finden in Deutschland 11 Wahlen statt, plus die Europawahl.
Was ist Dein Wahlziel für die Europawahl?
Wir müssen das Mandat im Europäischen Parlament unbedingt verteidigen. Europa wird in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. Daher werde ich alles daran setzen, dass wir den Wiedereinzug schaffen. Auch ermöglicht es uns, jungen Menschen über Praktika einen Einblick in die “Große” Politik zu geben. Dafür liegt noch eine Menge Arbeit vor uns. Ich bin überzeugt, dass wir das gemeinsam schaffen!
Ich danke für das Interview im Namen der Flaschenpost und wünsche viel Erfolg bei der Wahl.
Ullrich Slusarczyk / Redakteur Flaschenpost
[1] https://wiki.piratenpartei.de/Bundesparteitag_2022.1/Kandidatur
[2] https://video.dresden.network/w/iz1yQN7VFYkAsGuMuCdZeJ
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.
Moin!
Ullrich schreibt: „… und keinesfalls eine eigene Meinung haben, geschweige denn sie äußern darf.“ Ich halte das für dummes Zeug. Im Gegenteil ist es so, daß mir beispielsweise oft nicht klar ist, was der 1V meint. So hätte ich oft sehr gerne seine Meinung gehört – und ich bin überzeugt, er hat eine Meinung – aber nein….. immer wieder kämpfe ich mich durch sein Wortgestrüpp nach einem gangbaren Pfad zur Erhellung. Doch steh‘ ich da, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor …
Gruß
Joachim Rotermund
Aha, die Taktik kennt man Doch: Anfänglich was zum Artikel sagen, dann aber umschwenken um den Amtsinhaber und Konkurrenten schlechtzumachen. Nun ja, dieser Kommentar ist genau die Art von plumper Stimmungsmache die man von Joachim erwarten kann.
Lustigerweise ist er einer derer, bei dem viele nie wissen was er sagen will.
Die kleinen Verhältnisse in und Dresden reichen nicht um einen Bundesverband zu führen. Und neu sind die Ansätze von fort auch nicht.