
Retired in France | CC BY 2.0 Ernst Moeksis
Ein Gastartikel von Manuel Wolf
Auf die Frage der Flaschenpost, was im politischen Deutschland in den letzten Jahrzehnten schiefgelaufen ist, war mein erster Gedanke die staatliche Altersvorsorge. Doch bevor ich mit dem Meckern beginne, sei angemerkt, dass es sich bei sämtlicher Kritik am deutschen Rentensystem im internationalen Vergleich natürlich um Jammern auf hohem Niveau handelt. In vielen Ländern der Erde beneidet man uns um unsere soziale Absicherung im Alter. Das heißt allerdings nicht, dass es nichts zu beanstanden gäbe.
Für alle, die sich lange nicht mehr oder noch nie mit dem Thema beschäftigt haben, hier eine (ganz) kurze Auffrischung, wie die staatliche Rente funktioniert. Allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten werden 9,3 % vom Bruttolohn abgezogen und an die Deutsche Rentenversicherung abgeführt. Der Arbeitgeber legt den gleichen Anteil dazu, sodass monatlich 18,6 % eingezahlt werden. Nach fünf Jahren Beitragszahlung hat man Anspruch auf eine Altersrente ab frühestens dem 63. Lebensjahr. Das Wort „Anspruch“ ist enorm wichtig, denn man zahlt nicht für die eigene spätere Rente, sondern finanziert mit den Einzahlungen die aktuell ausgezahlten Renten. Die Zauberworte hierbei lauten Generationenvertrag und Umlageverfahren.
Auf die Frage, was schiefläuft, könnte man gleich mehrere Antworten finden, ich will mich aber auf einen Aspekt konzentrieren, nämlich auf unser 2-Klassen-Rentensystem. Die Aufteilung ist simpel, es gibt solche, die einzahlen und solche, die es nicht tun. Manche werden sich nun fragen „Moment mal, gerade hieß es doch noch, alle zahlen ein?!“ Der Teufel liegt hier allerdings im Detail und das Detail nennt sich ‚sozialversicherungspflichtig‘. Jedoch unterliegen nicht alle Teile der arbeitenden Bevölkerung dieser Pflicht.
So sind viele Berufsgruppen von der gesetzlichen Rentenversicherung befreit, da es für sie abweichende Versorgungen gibt. Dies gilt beispielsweise für staatlich Bedienstete, also Beamt:innen, Richter:innen, Soldat:innen und Beschäftigten bei Körperschaften des öffentlichen Rechts. Doch auch nicht-staatliche Berufsstände haben eigene Versorgungskammern ins Leben gerufen, in welche sie anstatt in die gesetzliche Rente einzahlen, zum Beispiel Rechtsanwält:innen, Ärzt:innen, Apotheker:innen, Notar:innen, Ingenieur:innen, Wirtschaftsprüfer:innen oder Architekt:innen. Die Gemeinsamkeit ist schnell gefunden; wer in einem dieser Berufe arbeitet, gehört in der Regel zu den Besserverdienenden. Und die Beiträge ebendieser Besserverdienenden fließen damit eben nicht in die gesetzliche Rentenversicherung, sondern in einen Topf, aus dem wiederum nur Gleichgestellte bedient werden.
Doch auch die gesetzliche Rente bevorteilt jene mit einem höheren Verdienst. So muss der Beitrag von 9,3 % nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze gezahlt werden. Diese liegt 2023 im Westen bei 87.600 €, im Osten bei 85.200 €. Übrigens: Wer in der Lage ist, das eigene Geld für sich arbeiten zu lassen, darf sich glücklich schätzen, denn Einkünfte aus Kapitalerträgen unterliegen selbstverständlich nicht der Rentenversicherungspflicht.
Das waren also jene, die es sich leisten können, nicht in die gesetzliche Rentenkasse zu zahlen. Kommen wir nun zu denen, die es sich nicht leisten können, in die gesetzliche Rentenkasse zu zahlen. (Die vorangegangenen Sätze muss man eventuell zweimal lesen. Entschuldigung.) Neben den oben aufgeführten Berufsgruppen gibt es noch andere Schlupflöcher aus der Beitragspflicht. So können sich auch Selbstständige davon befreien lassen. Begründet wird dies aus Politik- und vor allem Wirtschaftskreisen damit, dass eine selbstständige Tätigkeit nun einmal bedeutet, stets und vollends für das eigene Leben verantwortlich zu sein. In der realen Welt führt dies allerdings dazu, dass viele Selbstständige ihre Altersvorsorge vernachlässigen, insbesondere um bei der Gestaltung ihrer Preise wettbewerbsfähig zu bleiben. Und wenn man sich dazu entscheidet, die eigene Selbstständigkeit zum Familienunternehmen upzugraden, dann können mitarbeitende Familienangehörige ebenso befreit werden. Auch Minijobber:innen und saisonale Arbeitskräfte können der Zahlung der Rentenbeiträge freigestellt werden.
An dieser Stelle fragen sich manche vermutlich: „Was soll das alles?“ Gute Frage. Kommen wir also auf die oberen drei Absätze zurück.
1. Warum gibt es so viele berufsständische Versorgungen? Historisch entstanden sie aus einer Notwendigkeit, denn die sogenannten Freien Berufe wurden nach der Rentenreform von 1957 (Kabinett Adenauer) aus der gesetzlichen Rente ausgeschlossen, ohne Möglichkeit der freiwilligen Beteiligung. Um diesen Berufsgruppen trotzdem eine Altersrente zu ermöglichen, bildeten sich die entsprechenden Versorgungswerke. (Die älteste berufsständische Versorgung, die bayrische Ärzteversorgung, gründete sich übrigens bereits 1923, mit einer vergleichbaren Begründung.) Mittlerweile ist die freiwillige Mitgliedschaft in der Rentenversicherung möglich, die Zahl derer, die sie neben ihren Versorgungswerken nutzen, allerdings gering. Denn: 2016 betrug die gesetzliche Rente im Schnitt 1.200 €, die durchschnittliche Rente der berufsständischen Versorgung knapp über 2.000 €.
2. Warum gibt es eine Beitragsbemessungsgrenze? Oder anders gefragt: Warum verzichtet der Staat freiwillig auf höhere Abgaben. Die offizielle Begründung lautet, dass die Sozialversicherungen nicht ihre Einnahmen drosseln wollen, sondern ihre Ausgaben. Je höher die Einzahlungen, desto höher die Ansprüche, das würde insbesondere die Krankenversicherung vor Probleme stellen. Ein bisschen Lobbyismus der Besserverdienenden wird vermutlich auch eine Rolle spielen, aber das wäre ja Spekulation…
3. Warum erlaubt man so viele Ausnahmen von der Rentenversicherungspflicht? Apropos Spekulation. Ich habe auf diese Frage keine befriedigende, fundierte Antwort gefunden. Klar, für Selbstständige gilt die oben erwähnte These, dass diese nun einmal für all ihre Lebensbereiche selbst verantwortlich sein sollten. Ob das allerdings nur eine willkommene Ausrede von Wirtschaft und Politik ist, um sich die Hände reinzuwaschen, ist freilich Ansichtssache. Genauso, ob man Minijobber:innen etwas Gutes tut, wenn man ihnen ihren Verdienst ohne Abzüge auszahlt, anstatt ihren Rentenanspruch zu mehren…
Die Piratenpartei ist mit dem Status Quo der deutschen Rentenpolitik nicht zufrieden und fordert in ihrem Grundsatzprogramm entsprechend notwendige Änderungen: „Die Piratenpartei will alle bestehenden Rentensysteme, berufsständischen Versorgungssysteme und Pensionen im öffentlichen Dienst zu einer Rentenkasse zusammenführen. Alle steuerpflichtigen Einkommen und Kapitalerträge werden zur Zahlung von Rentenbeiträgen verpflichtet. Dabei sollen sich die Rentenbezüge innerhalb einer Mindest- und Maximalrente bewegen. Die Rentenkasse ist für die Rente zweckgebunden.“ Anders ausgedrückt: Wenn es nach uns Piraten geht, dann
1. erfolgen die Beiträge aller Berufsgruppen in eine Rentenkasse, egal ob Ärztin, Anwalt, Architektin oder Beamter. Selbstständige und Freiberufler sollen nicht von der Rentenversicherungspflicht befreit werden, ihre Beiträge sollen sich allerdings daran orientieren, ob und wie viele Gewinn ihre Selbstständigkeit erwirtschaftet.
2. sollen Kapitalerträge in Zukunft rentenversicherungspflichtig sein. Wer also sein Geld für sich arbeiten lässt, muss von den Gewinnen den gleichen Teil einzahlen wie andere von ihrer regulären Lohnarbeit.
3. werden Beitragsbemessungsgrenzen abgeschafft; wer viel verdient, soll den gleichen prozentualen Beitrag leisten wie Geringverdienende. Gleichzeitig soll es eine Mindestrente geben, um Altersarmut aufzufangen, sowie eine Maximalrente, damit die Rentenansprüche einiger weniger nicht durch die Decke gehen. Einen weiteren Hebel gegen Altersarmut stellt eine jährliche Anpassung der Renten dar, angepasst an die Inflationsrate sowie Gesundheitskosten.
Fakt ist, dass das bestehende Rentensystem und der ihm zugrundeliegende Generationenvertrag eine Überarbeitung dringend notwendig hat. Allein die Veränderungen im Familien- und Arbeitsleben (sinkende Geburtenrate, höhere Lebenserwartung, Arbeitsplatzabbau aufgrund von Automatisierung und Digitalisierung) machen dies offensichtlich.
Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung findet man übrigens keine derartige Überarbeitung, im Gegenteil. Dort wird indirekt festgestellt, dass das bestehende System mangelhaft ist, indem die Ampelkoalition festlegt, dass das umlagefinanzierte Modell durch Kapitaldeckung erweitert werden soll. Einfach ausgedrückt: Um das Rentenniveau zu halten, sollen staatliche Gelder am Finanzmarkt investiert werden und die daraus resultierenden Erträge mittel- bis langfristig das Loch in der Rentenkasse zumindest anteilig füllen.
Ob der Vorschlag der Piraten die ultima ratio ist? Womöglich nicht. Doch meines Erachtens ist es ein Konzept, welches den Anforderungen unserer Zeit gerecht wird; ein Konzept, über das es sich nachzudenken lohnt.