Ein Gastkommentar von RA Prof. Dr. Andreas Gran, LL.M.
Liberalismus ist als Gesellschaftsideal vorzugswürdig. Das freiheitliche Menschenbild überzeugt gegenüber der Staatshörigkeit, dem Vertrauen auf Obrigkeit. Allzu oft zeigt sich, dass Staatsdiener die anvertraute Macht ausnutzen. Liberale Freiheit ist aber im Wirtschaftsleben riskant, denn soziale Komponenten können zu kurz kommen. Nachstehend wird aufgezeigt, warum staatliche Eingriffe in die Wirtschaft (leider) noch unverzichtbar sind zum Schutz vor sozialem Ungleichgewicht. Dies sollte aber getragen sein von der Hoffnung, dass „sozialliberales Verantwortungsbewusstsein“ aller Marktseiten solche Restriktionen mehr und mehr entbehrlich werden lässt. Im Einzelnen:
1. Freiheit als Maxime
Bei Persönlichkeitsentfaltung wird Freiheit gerne verlangt, auch bei Meinungsäußerung, Versammlungen, Wohnortssuche, Religion usw. ist Freiheitsdrang positiv besetzt und das ist gut so. Dem trägt unser Grundgesetz – jedenfalls in der Theorie – Rechnung. Setzt sich die Freiheitsliebe in der Gedankenwelt fort, wird aber eine Ernüchterung auftreten, wenn eine komplett unregulierte Wirtschaft in die Vorstellung einrückt, beispielsweise einhergehend mit Diskriminierung, Umweltsünden, Mietwucher, Arbeitsplatzabbau und Steuersparmodellen. Noch bildlicher: Wenn ein Punk in Kreuzberg in schrankenloser Freiheitsliebe das Anarchiezeichen an Mauern sprüht, wird er damit wohl kaum seine Zuneigung zu radikal-liberaler oder libertärer Wirtschaftspolitik äußern. Das wäre sogenannte kapitalistische Wirtschaftsanarchie, die eher dem Wirtschaftsanwalt im Frankfurter Bankenviertel gefallen könnte. Ist das denn nicht inkonsequent? Wenn schon Freiheit vom Staat, dann doch in jeder Hinsicht, auch für gierige „Kapitalisten“, seien es Immobilienspekulanten oder Finanzinvestoren. Freiheitsliebe ist in der Tat eine grundsätzliche Geisteshaltung, die nicht differenziert werden sollte, eigentlich. Was hier paradox erscheint, ist der fehlende Mut, die Wirtschaft tatsächlich ungezügelt zu lassen. Dafür gibt es gute Gründe, denn beim Geld hört bekanntermaßen nicht nur die Freundschaft auf, sondern es veranlasst Menschen zu unethischem Verhalten. Sogenannter Neoliberalismus ist also ein Graus für viele sozial und empathisch denkende. Linksliberale müssen sich entgegenhalten lassen, dass sich links sein und liberale Wirtschaftsideologie schwer unter einen Hut bringen lassen.
2. Regulierte Wirtschaftsfreiheit
Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Zunächst kann ein Staat zielgerichtet in die Wirtschaft eingreifen, wann immer soziale Risiken nach Ansicht der Machthabenden drohen. Hier ist bereits ein wirtschaftliches Faktum zu bedenken: Ohne ein die wirtschaftliche Freiheit einengendes Kartellrecht – also die staatliche Wettbewerbskontrolle zur Abwendung von Marktübermacht – würden Monopole begünstigt, welche die wirtschaftliche Freiheit dann noch massiver einengen, zum Nachteil von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Nach einer Übergangsphase würden nämlich Marktführer durch sogenannten ruinösen Wettbewerb mit Preissenkungen die Konkurrenz verdrängen und dann ihre Marktherrschaft ausnutzen. Aktuell wird deshalb im Gesetzgebungsverfahren versucht, noch stärker regulierend einzugreifen. Da die Inflation auch auf ein Ausnutzen von Marktmacht, unter anderem beim Oligopol der Lebensmittelkonzerne, zurückzuführen sein könnte, wäre das Konsumentenschutz. Aus wirtschaftsrechtlicher Sicht ist ein gänzliches Verzichten auf Marktregulierung also kaum vorstellbar, da so Wettbewerb gefördert wird. Doch wird derzeit auch in zahlreichen sonstigen Wirtschaftsbereichen staatlich reguliert, sei es durch das sogenannte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, Kapitalanlegerschutznormen oder durch Initiativen gegen Werbung mit gesundheitlich bedenklichen Produkten. Der bürgerlichen Eigenverantwortung wird bei alledem kaum noch Vertrauen entgegengebracht. Ob allerdings die Wirtschaftskräfte vom Staat so gezügelt werden können, ist in vielen Bereichen zweifelhaft. Staatliche Vorgaben können sogar zu renitent oppositionellem Verhalten führen. Sie können zudem kontraproduktive Folgen haben, wie etwa bei zu intensiver Arbeitsmarktregulierung. Überdies vermitteln sie Wirtschaftsbeteiligten das Gefühl der Überregulierung. Die Möglichkeit staatlicher Gebote und Verbote muss deshalb stets kritisch hinterfragt werden. Nicht alles, was wünschenswert sein mag, kann staatlich auferlegt werden.
3. Förderung der Sozialkompetenz
Die bessere Möglichkeit ist es, sozialer Kompetenz mehr Vertrauen entgegenzubringen und diese im gesellschaftlichen Diskurs und der Bildung zu unterstützen. Das gilt einerseits für die Perspektive, wonach künftige Management- und Unternehmergeneration durchaus das Potenzial für mehr Sozialkompetenz mitbringen. Andererseits fußt sozial kompetenter Liberalismus auf der immensen Macht der Konsumentenkreise, damit diejenigen Wirtschaftsunternehmen, welche sich unsolidarisch verhalten, quasi bestraft werden, aber nicht vom Staat, sondern von den Kundinnen und Kunden. Wir haben die Ökonomie nämlich in der Hand und sollten nicht immer auf den Vater Staat hoffen. Oft sind Obrigkeitseingriffe kontraproduktiv. „Der Markt regelt es“ stimmt bislang keineswegs immer, aber je bewusster und kritischer konsumiert wird, desto stärker ist diese selbstregulierende Marktkraft. Mit Transparenz sollte klargemacht werden, wer die Gesellschaftsanteile von Unternehmen hält, wofür das Management steht, welche Risiken sich aus dem Marktauftritt für die Gesellschaft ergeben, wo sogenannte Finanzinvestitionen soziale Komponenten aus den Augen verlieren. Mit jeder Konsumentscheidung, bei jedem Gespräch mit Freunden, in Schulen und Hochschulen usw. muss die Überlegung aufkommen und zum Diskurs führen: Fördere ich mit meinem Konsum indirekt ein Wirtschaftsverhalten, das ich eigentlich nicht haben will?
4. Wirtschaftstransparenz durch digitalen Einblick
Hierbei müssen Nutznießer im Unternehmensgeflecht identifiziert werden. Wir brauchen mehr Transparenz. Es ist in unserer Gesellschaft viel zu wenig bekannt, wer hinter den Wirtschaftsunternehmen steckt. Deshalb sollten wir mehr über die Verflechtungen in globaler Wirtschaft wissen, um uns bei Konsumentscheidungen, Arbeitsplatzwahl usw. verantwortungsvoll ausrichten zu können. Umgangssprachlich geht es hier darum, wem „Firmen gehören“, juristisch akkurat um Gesellschaftsanteile, also u. a. Aktien. Oft sind diese nur mittelbar in persönlicher Hand. Dazwischen beherrschen Konzernunternehmen durch sogenannte Gewinnabführungsverträge (§ 291 AktG). Solche Beteiligungsnetze müssen aus verschiedenen Gründen durchleuchtet werden. Wir unterstützen nämlich alltäglich Renditestreben und Einflussgelüste. Konkret: Wer aus ethischem und empathischem Empfinden heraus das Wohlstandsgefälle kritisiert, sollte es nicht mittelbar unterstützen. Ausbeutung, Diskriminierung, Vetternwirtschaft, Korruption, Umweltsünden, Pflegenotstand, Bildungskluft usw. kann entgegnet werden. Dabei sind besagte Finanzinvestoren zu beobachten, die nur vorübergehend investieren. Bei sogenannten strategischen Investoren besteht Sorge, dass sie pragmatisch Einfluss nehmen, etwa zur Kontrolle der Medien oder aus Nationalstaatsinteressen. Schon ein wenig Internetrecherche kann sich als spannend erweisen, und da hilft uns die Digitalisierung. Sie verleiht Konsumenten eine nie dagewesene Chance der Teilhabe. Zwar wird dann die einzelne Kaufentscheidung nichts bewirken, aber wir sollten unser Handeln ausrichten, als hätte es umfassenden Einfluss (kategorischer Imperativ von Kant). Die solidarische Masse kann nämlich faktisch mehr bewirken, als durch Eingriffe bis hin zur Verstaatlichung. Das muss stärker ins Bewusstsein rücken, ohne Verschwörungstheorien, aber mit einer ordentlichen Portion Sozialverantwortung, damit der freien Marktwirtschaft moralische Grenzen gesetzt werden.
5. Fazit: Gesellschaft – nicht Staat – zügelt die Wirtschaft
Sobald ein Staat als Obrigkeit den Bürgerinnen und Bürgern das Denken quasi abnimmt, entfällt wirtschaftsbezogene Kritikfähigkeit. Solange der Staat Zigaretten, Süßigkeiten, Computerspiele usw. nicht verbietet, kann das doch alles nicht so schlimm sein, meinen viele und verlassen sich beim eigenen Konsum darauf. Nur die verbreitete sozial-gewissenhafte Eigenverantwortung wäre perspektivisch aber das „A und O“ der Gesellschaft und Wirtschaft. Bis unsere Solidargemeinschaft derart entwickelt ist, wäre es nicht zu verantworten, den wirtschaftlichen Kräfteentfaltungen unbegrenzt Raum zu geben, aber das Vertrauen ist in die menschliche Einsicht zu setzen, mehr als in Regulierung. In der Wirtschaft können so solidarische, soziale und liberale Werte verbunden werden, entgegen dem Staatssozialismus einerseits und dem Kapitalismus andererseits, eben als „freie soziale Marktwirtschaft“, der keine Bundestagspartei gerecht wird.
Andreas Gran