Moin Volker,
vom Stadtrat in das Europaparlament. Das ist ein großer Schritt.
Was ist Deine Motivation dabei?
Im Prinzip ist dies tatsächlich ein großer Sprung, aber uns PIRATEN sind ja leider die Zwischenschritte Landtag und Bundestag durch die undemokratische 5%-Hürde verwehrt. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Ich habe 2011 und 2016 für den Landtag von Baden-Württemberg sowie 2013 und 2017 für den Deutschen Bundestag kandidiert. Sicher unterscheidet sich die Arbeit in einem Vollzeitparlament mit 700 Menschen von einem „Freizeitparlament“ mit nur 26 Mandaten. In Backnang habe ich aber gezeigt, dass ich als Einzelkämpfer unter mächtigen Konkurrenten bestehen, mich gegen große Bündnispartner (Bündnis 90/Die Grünen) abgrenzen und konstruktiv mitarbeiten kann. Genau dies wird auch in Straßburg gefordert sein. Aber selbst, wenn ich einen Listenplatz belege, der die Wahl in das Europäische Parlament unwahrscheinlich macht, so sind wir PIRATEN bei mir vor Ort mit einem Europakandidaten präsent, was für die gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen in Baden-Württemberg zusätzliche Presse und Aufmerksamkeit generiert. Und genau das brauchen wir jetzt mehr denn je.
Du hast eine Petition ins Leben gerufen, in der Du die Teilnahme am ESC (Eurovision Song Contest) aussetzen willst. https://weact.campact.de/petitions/deutschlands-esc-teilnahme-ab-2024-aussetzen
Widerspricht das nicht dem europäischen Gedanken?
Viele von uns haben mitgefiebert, als „Lord of the Lost“ in Liverpool angetreten sind, um Deutschland würdig zu vertreten. Das Resultat ist jedoch ernüchternd. Der anhaltende Misserfolg bei diesem Format verlangt nach Konsequenzen irgendeiner Art. Schließlich werden Gebührengelder dafür ausgegeben, deren Einsatz man nach der Serie schlechter Resultate hinterfragen muss. Eine andere Möglichkeit, auf den Einsatz unserer Beiträge Einfluss zu nehmen und den Norddeutschen Rundfunk zu einem Statement zu bewegen, sehe ich derzeit nicht. In früheren Jahren haben sich immer wieder einzelne Länder zurückgezogen, was dem europäischen Gedanken keinen Abbruch getan hat, da sie ja Mitglied der EBU geblieben sind. Prominentestes Beispiel ist Italien, das von 1998 bis 2010 nicht teilnahm, oder Österreich, das von 2008 bis 2010 wegen Erfolglosigkeit aussetzte, um danach mit Conchita Wurst 2014 den großen Wurf zu landen. Ein Moratorium in diesem Contest, an dem 2023 nur 24 der 27 EU-Länder und 14 Nicht-EU-Länder teilnahmen, ist eine rein „sportliche“ Pause und kein „Brexit“.
Was verbindet Dich mit „Europa“?
Mit Europa verbindet mich meine Herkunft aus Deutschland und den Niederlanden. Wo ich aufgewachsen bin, sieht man die Containerkräne von Eemshaven. Holland war mir schon immer näher als Bayern, und die Tatsache, dass ich in Württemberg kein Ausländer bin und dass die Übersiedlung 2005 so problemlos verlief, verdanke ich im Grunde nur dem Lauf der Geschichte, da (Ost-)Friesen und Schwaben seit 152 Jahren die gleiche Staatsangehörigkeit teilen. Das bedeutet aber auch, dass politisch gezogene Grenzen einen großen Einfluss auf die Lebens- und Rechtsumgebung der Menschen und Chancengleichheit nur besteht, wenn leicht von einem ins andere Land gewechselt werden kann. Dass dies zunächst einmal zwischen Nachbarländern geschieht, ist naheliegend, und das Zusammenwachsen von Europa daher eine logische Konsequenz des gesellschaftlichen Fortschritts auf diesem Kontinent. Wir dürfen niemals aufhören, Fortschritt immer weiterzudenken und nicht in einer bürokratischen Stagnation verharren.
Für die Europawahl wurde das Wahlalter auf 16 Jahre gesetzt. Du als Lehrer kannst wahrscheinlich ganz gut abschätzen, was wir tun müssen, um besonders bei den Jungen im Wahlkampf zu punkten.
Mit welchen Themen sollten wir speziell für die jüngeren Wähler Wahlkampf machen?
Für die jungen Wahlberechtigten stellt sich gerade heute die Frage, wie die Welt in 50 Jahren aussehen wird. Während der Klimawandel ein anerkanntes und viel diskutiertes Problem ist, geraten jedoch andere Zukunftsfragen in den Hintergrund. Dabei sind es gerade die PIRATEN, die für diese Fragen besonders gut vorbereitet sind. Muss ich im Dorf abhängen oder gibt’s vielleicht mal einen Bus am Wochenende? Wann kann ich von zu Hause ausziehen und wie soll ich das bezahlen? Wird es den Beruf, den ich erlernen möchte, in 10 Jahren noch geben? Werde ich noch ein existenzsicherndes Einkommen erzielen können, wenn eine KI alles macht? Werde ich überhaupt studieren können? Das sind lauter Fragen, die junge Leute umtreiben, und auf die wir PIRATEN längst Antworten haben. Wir müssen nur die Antworten, die andere Parteien nicht haben, stärker herausstellen.
Du scheinst ein Fan von Frauenfußball zu sein, wie man auf Deinem Twitteraccount sehen kann.
Was glaubst Du, kann man auf europäischer Ebene für die Gleichberechtigung tun, und siehst Du darin vielleicht eine Aufgabe?
Zunächst einmal werden bei mir die Mädels und die Jungs des SV Werder Bremen gleichbehandelt und bekommen nach gutem Spiel einen Retweet. Aber die Jungs verdienen natürlich deutlich mehr. Das liegt daran, dass im Fußball Gehälter frei ausgehandelt werden. In weiten Teilen der Wirtschaft ist das leider so, außer dort, wo es einen Tarifvertrag gibt. Meine Erfahrung als Betriebsrat in einer Firma mit Tarifvertrag sind zumindest unter diesem Gesichtspunkt positiv. Daher denke ich, dass betriebliche Mitbestimmung und starke Gewerkschaften auch von der Europäischen Union gefördert werden sollten, was allerdings den Brüsseler Lobbyisten nicht gefallen dürfte. Eine Quote in der Chefetage von Konzernen löst das Problem an der Basis nicht. Eine Demokratisierung der Wirtschaft schon.
Aber wir dürfen natürlich nicht beim Gender Pay Gap aufhören. Elementare Frauenrechte sind auch in Ländern der Union bedroht. Irland hat 2018 zwar noch das Abtreibungsrecht selbst gerettet, aber in Polen sieht es düster aus. Wir sind in der Verantwortung, nicht nur hier, sondern auch auf anderen Gebieten der sexuellen Selbstbestimmung europaweite Schutznormen durchzusetzen, um die EU zu einem lebenswerten Raum für alle Geschlechter zu machen.
Gibt es ein Thema, das Dir besonders am Herzen liegt?
Es gibt mehrere. Das größte von allen ist das bürgernahe Europa, in dem das Europäische Parlament die alleinige Legislative ist und wir regelmäßig in europaweiten Volksabstimmungen gefragt werden. Ein ambitionierter Plan für den Umbau der EU, aber die Erfahrung zeigt, dass große Umbrüche in kleinen Schritten beginnen und das Personal eine entscheidende Rolle spielt. So hätte sich vor fünf Jahren wohl niemand träumen lassen, dass Backnang, damals noch regiert vom jetzigen Stuttgarter OB Dr. Nopper (CDU), einmal so sehr bezahlbaren Wohnraum und Klimaneutralität vorantreibt. Eng damit zusammen hängt, ob die EU ihre Bürger kontrolliert oder ob diese sie kontrollieren. Momentan ist es mehr als eindeutig: Vorratsdatenspeicherung, Chatkontrolle, Uploadfilter – die Liste der digitalen Übergriffigkeiten aus Brüssel ließe sich beliebig fortsetzen. An dieser Stelle möchte ich die Arbeit von Dr. Patrick Breyer loben, der sich wie kein Anderer als MdEP für unsere digitalen Freiheitsrechte eingesetzt hat! Genau diese Politik müssen wir unbedingt fortführen. Darum braucht es PIRATEN im Europäischen Parlament. Es geht um unserer Europa, in dem wir gerne leben wollen.
Du bist bereits sehr lange in der Piratenpartei und hattest auch schon einige Ämter. Aus Piratensicht bist Du damit sowas wie ein Politprofi.
Gibt es eine politische Entscheidung, die nur auf europäischer Ebene für Deutschland durchgesetzt werden kann, weil sie in Deutschland so nie beschlossen werden würde?
Mir fehlt ein wenig die Fantasie, um mir vorzustellen, was explizit nur durch die EU in Deutschland durchgesetzt werden könnte, also wofür es hierzulande keine parlamentarische Mehrheit gibt, da in Deutschland Beschlüsse auf europäischer Ebene im Gesetzgebungsverfahren höchsten Stellenwert besitzen und bisher fristgerecht umgesetzt wurden.
Die Gewichtung der europäischen Staaten in der EU ist sehr unterschiedlich.
Welche Rolle spielt Deutschland für Europa nach Deiner Ansicht?
Gerade als bevölkerungsreichstes Land der Union muss Deutschland sich besonders für einen Interessenausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten einsetzen. Tatsächlich ist Deutschland geografisch gesehen die zentrale Masse, die Europa als Ganzes zusammenhalten kann. Wir sind wesentlich für die Statik des Gebildes. Damit geht eine besondere diplomatische Verantwortung einher.
Gleichzeitig kann von Deutschland aber auch neues Leben für die Union ausgehen. Inspiriert durch Bürgerräte in Deutschland gibt es seit 2021 Bürgerforen auf europäischer Ebene. Diese ersten wichtigen Meilensteine auf dem Weg zu mehr Demokratie verlangen nach einer Fortsetzung und Weiterentwicklung. Und gerade bei der Attraktivierung der innereuropäischen Demokratie kommt uns eine besondere Aufgabe zu, da diese von allen Nachbarn wahrgenommen wird.
Eines Deiner Grundthemen ist der Kampf gegen Mobbing.
Was genau könnte auf europäischer Ebene hierfür gemacht werden?
Deutschland ist in Sachen Gesetzgebung gegen Mobbing leider Entwicklungsland, wie ich vor 10 Jahren schon bei der Programmarbeit vor dem dreitägigen Bundesparteitag in Neumarkt in der Oberpfalz feststellen musste, als ich in den Bereichen Arbeit und Soziales sowie Justizpolitik an der Überarbeitung des Wahlprogramms mitgewirkt habe. Während es in Frankreich und Schweden schon um die Jahrtausendwende einschlägige Gesetze gab, wird in Deutschland häufig auf die einschlägige Rechtsprechung im Arbeitsrecht verwiesen, ohne dass es allgemeingültige Richtlinien gibt. Ein Hebel, dies zu ändern, wäre die Setzung von Rahmenbedingungen durch Bestimmungen auf europäischer Ebene, die von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht gefasst werden müssen. Ländern wie Polen oder Ungarn würde eine politisch motivierte Auswahl im öffentlichen Dienst noch weiter erschwert. Ein zusätzlicher, sehr angenehmer Effekt einer gesamteuropäischen Regelung.
Welchen Listenplatz strebst Du an?
Wir haben jetzt schon viele tolle Piraten im Wiki stehen, die für die Europaliste kandidieren und die ich für sehr fähig halte. Mögen die Besten unter ihnen die vorderen Plätze einnehmen! Ich selbst habe das Handicap, wegen Terminen als Backnanger Stadtrat auf dem am gleichen Wochenende stattfindenden Straßenfest beim Bundesparteitag leider nur durch einen Proxy vertreten zu werden. Ich strebe daher nur irgendeinen Listenplatz an, um als Rems-Murr-Pirat vertreten zu sein und die europapolitische Präsenz der Piratenpartei im Kreis und in der Region Stuttgart darzustellen. Dies geschieht auch in der Hoffnung, dass diese Präsenz eines Europakandidaten positive Effekte auf die Gemeinderats-, Kreistags- und Regionalwahl hat. Denn wir brauchen vor allem wieder mehr Präsenz auf dem Land.
Das Interview wurde offline geführt. Vielen Dank für das Interview an Volker Dyken.
Ullrich Slusarczyk
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.