Hallo Hélder,
Du kandidierst für das Europaparlament. Dabei sind mir gleich zwei Sachen aufgefallen, die diese Kandidatur besonders machen.
Du lebst zwar in Deutschland, darfst aber nach eigenen Angaben nicht wählen.
Warum nicht?
Ich lebe nicht nur in Deutschland, ich bin sogar hier geboren und aufgewachsen. Jedoch fehlt mir, um wählen zu dürfen, die deutsche Staatsbürgerschaft. In meinem Bekanntenkreis sind auch viele verwundert, dass das immer noch der Fall sei. Denn es herrscht noch immer der Irrglaube, diese sei leicht zu erreichen bzw. allein auf den Geburtsort begründet, was beides nicht der Fall ist. Hierzu habe ich für die NRW-Piraten auch einen Gastbeitrag zum Tag der Migrant:innen 2021 verfasst und meine persönlichen Erfahrungen einfließen lassen.
Du sprichst mehr als 5 Sprachen. Das allein prädestiniert Dich natürlich für eine Arbeit in einem Parlament, immerhin hat Europa 24 Amtssprachen.
Was verbindet Dich mit „Europa“?
Meine Eltern sind kurz vor meiner Geburt aus Portugal nach Deutschland eingewandert. Alle meine Verwandten außerhalb meiner Kernfamilie leben im europäischen Ausland. Deutschland ist zudem von weiteren Staaten umgeben, die ebenfalls Europa repräsentieren. Zusätzlich besitzt auch meine Frau einen bosnisch-kroatischen familiären Hintergrund, der sich im Urlaub, wie auch bei Familienfesten nicht verleugnen lässt. So musste die Ansprache an die Gäste bei unserer Hochzeit in drei Sprachen gehalten werden, da auch hier international Gäste eingereist sind, um zusammen zu lachen, zu tanzen und zu feiern.
Als NRW’ler wohnt man ja auch näher an Städten, wie Bruxelles, Paris, Amsterdam als an Hamburg, Berlin oder Stuttgart. (Fun Fact: Von meinem Wohnort Recklinghausen ist es sogar näher nach London als nach München zu reisen.)
Du bist der bisher einzige Kandidat, bei dem das Wort Inklusion auftaucht.
Was glaubst Du, müssen die Piraten vor allem im Parlament für die Inklusion sowohl in Europa als auch in Deutschland tun?
Hier gilt es viele erarbeitete Selbstverständlichkeiten, die Deutschland bereits gelten, in andere Länder zu tragen. Andersherum gibt es bereits viele erfolgreiche Projekte in anderen Staaten, von denen die Inklusion in Deutschland profitieren kann. Zumal hier Inklusion mit Integration von Menschen mit Behinderung gleichgesetzt wird, was es definitiv nicht ist. Hier gilt es Chancengerechtigkeit und -gleichheit zu gewährleisten und neben „Privacy-by-design“ auch „Teilhabe-by-design“ zu berücksichtigen.
Im Parlament sollte daher ein Fahrplan entwickelt werden, der offen kommuniziert sowie mit Betroffenenverbänden besprochen und bearbeitet werden sollte, wie zu einem Tag X gesamtgesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden soll.
Mit der UN-BRK (UN-Behindertenrechtskonvention) wurde ein wichtiger Schritt getan. Mit der Umsetzung hapert es aber gewaltig. Und das nicht nur in Deutschland.
Wie kann man dem Thema Inklusion auch in Europa mehr Gewicht verleihen?
In der bisherigen Beobachtung konnte ich schon erkennen, dass europäische Fördergelder schon jetzt an bestimmten Auflagen geknüpft sind, die inklusive Maßnahmen beinhalten. In der Durchführung jedoch als notwendiges Übel wahrgenommen werden, um diese Fördergelder zu erhalten. Zu oft scheitert dann die Teilhabe bestimmter Gruppen an der nicht gut durchdachten Durchführung. Ein Beispiel ist eine in einem Bahnhof aufgemalte „Umleitung“ eines Blindenleitstreifens, auf dessen alten Weg später eine Info- oder Werbetafel aufgestellt wurde.
Ich beobachte auch schon die Entwicklung des „EU Behindertenausweis“, der bereits in einer Pilotphase in verschiedenen Ländern ist und damit ein erster Schritt in die richtige Richtung zu einheitlichen Behindertenrechten in ganz Europa bedeuten kann.
Zu dieser Europawahl wurde das Wahlalter auf 16 Jahre gesetzt. Du arbeitest als Berufseinstiegsbegleiter und hast so viel mit jungen Menschen zu tun.
Mit welchen Themen sollten wir unbedingt Wahlkampf machen, um die jungen Wähler für uns zu begeistern?
Eine einfache Lösung ist die schnelle Legalisierung von Cannabis. Aber junge Menschen nur auf Spaß und Freizeit zu reduzieren, ist auch der falsche Weg. In meiner beruflichen Laufbahn habe ich mit Jugendlichen ab der neunten Klasse zu tun. In dieser Zeit machen diese sich starke Gedanken um ihre Zukunft. In meinem Beruf ist das die berufliche Zukunft, bei denen ich sie vorrangig unterstütze. Im Parlament ist es alles andere drumherum. Da gehört die Bewältigung der Klimakrise, die Möglichkeit der Mitbestimmung und der internationale Austausch untereinander zu den Dingen, die hier gefördert werden können. Interrail (bzw. DiscoverEU) ist hier nur eines der positiven Beispiele.
Du forderst ein Vetorecht bei Abschiebungen im Ausländerrechtlichen Beratungsgremium. Auf europäischer Ebene gibt es mit Frontex (Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache) eine Agentur, die Abschiebungen quasi ohne Prüfung vornimmt.
Wie sollten die Piraten dieses Problem angehen?
Die Einführung von Frontex wurde schon von Beginn an von den PIRATEN und auch mir stark kritisiert. Die EU-Außengrenzen sind somit zu dem Gegenteil dessen verkommen, wie sich die Europäische Union nach innen darstellt. Während gleichzeitig wirtschaftliche Fachverbände einen Mangel an Fach- und Arbeitskräften beklagt, ertrinken Menschen im Mittelmeer, die lieber den Tod in Kauf nahmen, als ein Leben in ihrer Heimat.
Daher gibt es hier nur die Forderung der Abschaffung von Frontex und eine Aussetzung aller Abschiebungen. Zugleich sollten die Außengrenzen auch wieder Orte der Einladung werden und nicht die von Gewalt, wie es mit Push-back-Aktionen der Fall ist.
Auch sollte man sich die Abschiebungen, die aktuell getätigt werden, genauer anschauen. Da kommen besonders fragwürdige Praxen auch deutscher Behörden zum Vorschein, wie eine Verhaftung aus dem Ausländeramt heraus, zu dem eingeladen wurde, mit dem Vorwand eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten oder sogar während der Arbeit bzw. am Ausbildungsplatz. Menschen werden unberücksichtigt ihrer sexuellen Identitäten in für sie fremde Länder abgeschoben, die keine Toleranz für sie aufbringen.
Die Klimakatastrophe wird zu einem Generationsproblem.
Kann das Europaparlament einen Beitrag zur Bewältigung der Klimakatastrophe leisten?
Ja.
Das Pariser Abkommen wurde schon nach einem der europäischen Hauptstädten benannt. Daher sollte die EU hier eine Vorreiterrolle einnehmen, um mit ihrer Macht auch andere Länder zu einem Einhalten der Ziele zu bewegen. Warum man diese Ziele gegen die Aussicht auf kurzfristigen Wirtschaftswachstum, wie in internationalen Freihandelsabkommen, ausspielt, ist mir daher unklar. Dieses Wachstum wird dann auch wieder auf dem Rücken derjenigen ausgetragen, die anschließend auf unsere Hilfe angewiesen sind.
Auch im Bereich Bildung gibt es sowohl in Deutschland als auch in Europa etliche Defizite.
Welche Möglichkeiten hat das Europaparlament, hier etwas zum positiven zu bewegen?
Die Förderung junger Menschen, im Grunde sogar aller Menschen sollte immer das Ziel einer Gemeinschaft sein. Bildung ist zudem in Europa (sogar nur innerhalb Deutschlands) je nach Ort unterschiedlich dargestellt und verfügbar. Die Bewegung zu einer einheitlichen Schul- und Berufsbildung geht noch immer sehr langsam voran. Das EU-Parlament kann hier für eine gegenseitige Anerkennung und Übernahme von Bildungsprogrammen ihrer Mitgliedsstaaten sorgen. Mit dem europäischen Qualifizierungsrahmen (EQR) wurde eine Grundlage hierfür geschaffen, die jedoch noch weiter ausgebaut werden sollte. So ist es absurd, dass ein Tourismusstudium in Frankreich einer dualen Ausbildung im Hotel in Deutschland gleichgesetzt wird.
Du schreibst auf Deiner Wikiseite auch über Kunst und Kultur und dass viele Kunstwerke, die von Kommunen zu Vermögensbildung gekauft wurden, lagern, statt in Museen zu hängen.
Siehst Du Möglichkeiten, das über Europa zu ändern?
Es betrifft in erster Linie die Kommunen, die diese als Kapitalanlagen sehen. Ob ein Verbot der Einlagerung oder eine Pflicht zur Ausstellung hier mit einer europäischen Richtlinie gefördert werden kann, müsste vorher geklärt werden. Aber dazu kann es sicher noch weitere Ideen geben.
Welchen Listenplatz strebst Du an?
Ich trete nicht an, um genau Platz 12, 3, 5 oder 42 zu erreichen. Mein Ziel ist es, ins Parlament zu kommen. Platz 1, 2 oder 3 darf es gerne sein. Dabei werde ich nicht traurig sein, wenn diese Plätze mit Personen besetzt werden, die ich selbst für geeigneter halte. Diese werden auch genauso im Wahlkampf und danach meine volle Unterstützung erhalten.
Das Interview wurde offline geführt. Vielen Dank für das Interview an Hélder Aguiar.
Ullrich Slusarczyk
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.