Hallo Anne,
das Interview kommt überraschend. Überraschend deswegen, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass unsere Bundesvorsitzende für die Europawahl kandidiert. Daraus ergeben sich ein paar Fragen. Vorsitzende auf Bundesebene in einer Partei zu sein, bedeutet, dass man Einfluss sowohl auf nationale wie auf europäische Politik hat. Man kann das Erscheinungsbild der Partei maßgeblich prägen. Im Europaparlament hingegen macht man zwar Politik, beeinflusst aber die Partei, wenn überhaupt, nur noch indirekt.
Ist die Kandidatur nicht ein Abstieg und gleichzeitig auch ein Eingeständnis, als Bundesvorsitzende nicht alle eigenen Ziele erreicht zu haben?
Bei dieser Europawahl geht es für uns PIRATEN um mehr als nur Mandate, sondern auch darum, ob wir weiter Parteienfinanzierung erhalten. In dieser Situation sehe ich es als meine Pflicht als Vorsitzende diesem Wahlkampf die höchste Priorität zu geben und zwar nicht nur von der Seitenlinie sondern als Kandidatin, um unsere Erfolgsaussichten im Wahlkampf zu verbessern.
Und natürlich ist es mein Anspruch unsere Politik auch im Parlament zu vertreten! Es geht darum, Politik konsequent umzusetzen: Ich will die Piratenpartei und ihre Themen wieder stärker sichtbar machen und in den politischen Diskurs einbringen. Dafür braucht es eine Fortführung und einen Ausbau der erfolgreichen Arbeit der Piraten in den letzten 10 Jahren in Brüssel. Im letzten Jahr habe ich als Vorsitzende hart daran gearbeitet unser Netzwerk mit den anderen europäischen Piratenparteien, digital- und netzpolitischen Verbündeten aus der Zivilgesellschaft und anderen wichtigen europäischen Akteur:innen wiederzubeleben und auszubauen.
Und selbstverständlich habe ich noch nicht alle Ziele erreicht, aber viele Dinge sehe ich auf einem guten Weg. Nun muss es das Ziel sein, das Mandat in Brüssel noch stärker im Sinne der Partei zu nutzen, Kampagnen, Aktionen und Öffentlichkeitsarbeit gemeinsam abzustimmen und durchzuführen. Ich bin bereit für die PIRATEN und unsere Wähler:innen zu arbeiten und zu kämpfen.
Warum hast Du so lange mit der Kandidatur gewartet?
Eine Kandidatur und vor allem auch der nötige Wahlkampf zur Europawahl müssen gut geplant und vorbereitet sein. Mir war es außerdem wichtig eine wohl überlegte, vollständige und umfassende Kandidatur zu präsentieren.Parallel wollte ich natürlich auf keinen Fall meine Aufgaben als Bundesvorsitzende samt aktuell laufender Projekte (zum Beispiel die Aktion zur Chatkontrolle oder zur Sperrklausel) vernachlässigen.Daher habe ich mir die nötige Zeit genommen, um mir gut zu überlegen, wie sowohl das nächste Jahr als auch die Zeit im Parlament danach aussehen können. Ich bin mir des zeitlichen Umfangs und der persönlichen Belastungen einer solchen Kandidatur und auch des Mandates bewusst und habe die nötigen Vorbereitungen dafür getroffen.Also: Lasst uns zusammen die Wahl rocken!
“Lasst uns zusammen die Wahl rocken!”, ist ein recht eingängiger Slogan.
Wie denkst Du, können wir diese Wahl rocken?
Ich bin absolut davon überzeugt, dass es uns gelingen wird, viele junge Menschen anzusprechen, die erstmalig und endlich auch ab 16 wählen dürfen. Diesen jungen Menschen müssen wir als Piratenpartei ein glaubwürdiges Angebot machen. Dafür sind wir wie keine andere Partei in der Lage. Als einzige Partei haben wir Themenschwerpunkte bei Digitalem, Umwelt und sozialen Themen. Wir denken weiter als eine Legislatur und sind eine der wenigen Parteien, die sich noch Utopien für die Zukunft zutrauen.
Digitale Themen sind für uns junge Menschen unglaublich wichtig. Das Internet ist für uns nicht nur Arbeitswerkzeug sondern quasi von klein auf Lebensumfeld. Dieses Umfeld wird maßgeblich durch die europäische Ebene reguliert und leider auch bedroht – die Chatkontrolle, aber auch Versuche, Netzneutralität abzuschaffen und Verschlüsselung gänzlich zu verbieten sind Beispiele dafür. Bei diesen Themen glaubhaft vermitteln zu können, dass wir an der Seite der Nutzer:innen stehen, ist ein wichtiger Schritt dabei.
Dann geht es natürlich auch um Umwelt und Klimapolitik. Auch hier suchen viele nach einer Partei, die verlässliche Klimapolitik macht – eine, auf die sie sich auch noch nach der Wahl verlassen können. Für mich selbst ist das ein Thema bei dem ich keine Kompromisse eingehen würde. So geht es sehr vielen jungen Menschen – und natürlich nicht nur jungen Menschen.
Damit sich mehr Menschen mit unseren Ideen auseinandersetzen, geht es darum, im Wahlkampf gemeinsam Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei würde ich gerne wie auch in der Vergangenheit auf sichtbare Aktionen setzen. Die Beerdigung des 9€-Tickets oder auch die Briefkasten-Aktion zur Chatkontrolle haben gezeigt, dass es mit ein wenig Einsatz und Kreativität möglich ist, mehr Menschen zu erreichen und in die Presse zu kommen. Mit einem engagierten und kreativen Wahlkampf werden wir zusammen nicht nur viele und insbesondere junge Menschen dazu bewegen uns zu wählen, sondern auch Mitglied zu werden.
Ich habe Dich bisher noch nicht so als europäische Politikerin wahrgenommen.
Wo würdest Du Dein Hauptgebiet im Europäischen Parlament sehen?
Menschenrechte sind für mich das wichtigste Thema auf europäischer Ebene. Ich bin davon überzeugt, dass es von gewaltiger Bedeutung für die Zukunft der EU ist, wie Menschenrechte innerhalb der EU eingehalten werden – aber auch wie die EU global auftritt. Wenn wir wollen, dass das europäische Projekt eine Zukunft hat, dann muss die EU innerhalb und insbesondere auch außerhalb ihrer Grenzen sicherstellen, dass die in der Grundrechtecharta garantierten Rechte auch wirklich geachtet werden. Dazu würde ich gerne meinen Beitrag leisten.
Ich würde sehr stark darum kämpfen, dass die Piratenpartei wieder in den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (also den LIBE-Ausschuss) kommt. Der beschäftigt sich nämlich nicht nur mit den ganzen Überwachungstechnologien, sondern eben auch mit der Einhaltung von Menschenrechten, der Rechtsstaatlichkeit und – mir sehr wichtig – dem Thema Asyl und Migrationspolitik.
Du forderst eine “humane Asylpolitik”.
Wie willst Du die auf europäischer Ebene erreichen?
Was an unseren Außengrenzen passiert, geht uns alle an. Auch dieses Jahr ertrinken wieder unzählige Menschen im Mittelmeer, vor wenigen Tagen erst sind 500 Menschen ums Leben gekommen. Statt den Hilfesuchenden ebendiese Hilfe zu geben, ist die europäische Asylpolitik von Abweisung, Diskriminierung, Ausbeutung und Tod geprägt. Die Aufrechterhaltung dieses Zustands halte ich für ein riesiges Verbrechen. Wenn sich eine anständige Gesellschaft daran bemisst, wie sie mit denen umgeht, die Schutz suchen, die von Verfolgung, Hunger und Not betroffen sind, dann ist die Festung Europa eine verdorbene Gesellschaft.
Daher würde ich mich als Abgeordnete auch für die Menschen starkmachen, die keinen europäischen Pass haben. Auch wenn die Fähigkeit des Parlaments eigene Gesetze einzubringen begrenzt ist, gibt es durchaus zahlreiche Möglichkeiten auf die darauffolgenden Prozesse positiv Einfluss zu nehmen – ob über Verhandlungen, Anfragen, Öffentlichkeitsarbeit oder auch Klagen vor dem EuGH.
Auch bin ich davon überzeugt, dass eine wirklich humane Asylpolitik nicht im nationalen Alleingang machbar ist. Wir brauchen eine staatlich, eine europäisch organisierte Seenotrettung und Verteilungsmechanismen, die humanitäre Standards vor Ort und ein solidarisches, gemeinsames Agieren garantieren. Damit nicht nur die Menschenwürde von Europäer:innen unangetastet bleibt. Die bisherigen Vorschläge zum Gemeinsamen europäische Asylsystem (GEAS) mit Abfertigungsanlagen und Vorbeugehaft an den Außengrenzen sind das Gegenteil einer humanen Asylpolitik.
Eine weitere Forderung von Dir sind: digitale Freiheitsrechte.
Was verstehst Du darunter?
Digitale Freiheitsrechte sind für mich die Umsetzung von Grundrechten im Internet. Diese Grundrechte müssen (leider!) auch im Internet ständig wieder verteidigt werden.
Zu den klassischen Abwehrrechten gehören natürlich auch das Recht auf Privatsphäre und Datenschutz: Informationen verschlüsselt und anonym zu übertragen sowie das Recht, dass persönliche Daten geschützt sind. Oft, wenn ein neues Gesetz eine dieser digitalen Freiheiten einschränkt, hat das Auswirkungen auf die meisten anderen. Wenn wir individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit auch in einer digitalen Gesellschaft aufrechterhalten wollen, müssen wir dafür sorgen, dass auch digitale Freiheiten geschützt werden.
Mein großes Ziel wäre es darüber hinaus auch endlich mal die ewigen Abwehrkämpfe zu überwinden und das Internet tatsächlich nach unseren progressiven Vorstellungen aktiv zu gestalten. Das Internet kann dazu beitragen, dass die Welt ein gerechterer, ein partizipativer und barriereärmerer Ort wird. Damit wir uns im Internet frei entfalten können, sind wir darauf angewiesen, dass wir freien Zugang zu Informationen und Software haben.
Es ist höchste Zeit für eine echte und verbindliche digitale Grundrechtecharta auf EU-Ebene. In der für alle, insbesondere für die konservativen Parteien, unmissverständlich und klar Grundpfeiler eingeschlagen werden wie: Eine Vorratsdatenspeicherung oder Eingriffe in die Netzneutralität jedweder Form sind unzulässig. PUNKT.
Um es auf die PIRATEN-Formel herunterzubrechen: mehr Transparenz, weniger Überwachung! Und: Mehr Visionen, weniger Abwehrkämpfe!
Mit Dir bewerben sich jetzt 4 Frauen für Europa. Gleichzeitig aber 14 Männer.
Trauen Frauen sich nicht oder ist Europa generell ein Männerthema?
Weder noch. Europa ist ein Thema für alle und geht uns alle an.Es muss als Piratenpartei unser Anspruch sein, dass sich alle durch unsere Liste repräsentiert sehen. Was wir dafür auf jeden Fall noch stärker tun müssen: Parteiarbeit, aber auch Kandidaturen einfacher zugänglich zu machen. Sodass wir in 5 Jahren eine noch vielfältigere Europaliste haben.Wenn wir wollen, dass die Piratenpartei eine Gruppe ist, bei der sich ganz unterschiedliche Menschen wohlfühlen und achtsam miteinander umgehen, müssen wir alle gemeinsam versuchen, die Partei unterstützender, sozialer und freundlicher zu machen.Dazu trage ich meinen Teil bei und habe explizit Frauen encouraged, zur Europawahl anzutreten. Ich freue mich über die vielen motivierten Menschen, die nun auf der Europaliste kandidieren möchten!
Du bis noch sehr jung und wirst die Auswirkungen der Klimakrise wohl noch am eigenen Leibe in voller Ausprägung erleben.
Kann das Europaparlament einen Beitrag zur Bewältigung der Klimakatastrophe leisten?
Das Europäische Parlament kann einen gewaltigen Beitrag zur Bewältigung der Klimakatastrophe leisten. Dafür bedarf es eines deutlichen piratigen Anstrichs und einer Stärkung des Parlaments gegenüber den nationalen Regierungen. Letztere und insbesondere die deutsche Regierung weichen wichtige Klimaziele immer wieder auf – zuletzt wurde dies bei der Scheindebatte um „Technologieoffenheit“ beim Thema der eFuels deutlich.
Als Abgeordnete werde ich mich dafür einsetzen, dass wir über die EU-Rahmengesetzgebung einen deutlichen Beitrag zur Bewältigung der Klimakatastrophe leisten können und so die nationalen Regierungen in die Pflicht nehmen.Wir laufen sehenden Auges auf einen Abgrund zu. Da ich selbst bei diversen Klima-Protesten u.a. zuletzt in Lützerath vor Ort war, habe ich dabei ein sehr konkretes Bild vor Augen. Wir wollen keine billigen Ausreden mehr hören, keine faden Kompromisse oder ein Verschieben auf in zehn Jahren. Wir müssen jetzt handeln und dafür braucht es Politiker:innen im Europäischen Parlament, die verstanden haben, worum es geht: um unsere Zukunft!
Hast Du einen besonderen Bezug zum Europaparlament?
Ich bin zwischen den Verträgen von Amsterdam und Nizza geboren, ich kenne nichts anderes als die EU und ich möchte auch nichts grundsätzlich anderes.
Die Geschichte der Entwicklung der Europäischen Union verbinde ich mit Hoffnung – Europa ist für mich trotz gewisser Schwächen das Versprechen einer besseren Zukunft. Ein vereintes Europa, das gemeinsam daran arbeitet, das Leben der Menschen zu verbessern. Im Kern dieser Bemühungen sehe ich das Europäische Parlament. Dort ist der Ort, wo von der Bevölkerung gewählte Menschen aus ganz unterschiedlichen Staaten, mit ganz unterschiedlichen Nationalitäten, Sprachen, Ideen und Überzeugungen zusammentreffen und friedlich nach Lösungen suchen. Bei meinen regelmäßigen Arbeitstreffen in Brüssel und Straßburg hat mich das unglaublich begeistert und motiviert. Dabei ist mir auch immer wieder aufgefallen, wie viel größer das Potenzial für gestaltende Politik im Europaparlament verglichen z.B. mit dem Bundestag ist. Im Europaparlament können wir direkt mit anderen europäischen Piratenparteien, aber auch in verschiedenen Netzwerken und Bündnissen, manchmal auch fraktionsübergreifend, arbeiten. Da liegen Welten zwischen der nationalen und der supranationalen Politik.
Ich bin außerdem sehr froh, dass auch die Abgeordneten im Europaparlament immer repräsentativer für die Bevölkerungen werden. Insbesondere die steigende Anzahl jüngerer Abgeordneter macht Mut für die Zukunft – aber ist bei weitem nicht dort, wo sie hinmuss. Die 2019 eingezogenen Abgeordneten sind im Schnitt knapp 50 Jahre alt und das ist noch immer einige Jahre älter, als die beiden ältesten Länder der EU – Deutschland und Italien. Da muss sich was ändern!
Welchen Listenplatz strebst Du an?
Ich bin bereit, mit all meiner Kraft und Energie in den Wahlkampf zu starten, deswegen strebe ich den ersten Listenplatz an.
Das Interview wurde offline geführt. Vielen Dank für das Interview an Anne Herpertz.
Ullrich Slusarczyk
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.