Hallo Paul,
in Deiner Bewerbung und auf Deiner Webseite (https://pauldiegel.eu/) steht, dass Du bereits seit 2014 im Europäischen Parlament tätig bist.
Was hast Du in der Zeit gemacht?
Ich habe in der Zeit vor allem viele interessante und engagierte Europäer kennengelernt, mit Kommissaren und Abgeordneten verhandelt, getrunken und gelacht. Habe es in die erste Auflage von Martin Sonneborns Buch geschafft. Habe mit Nigel Farage pro-europäische Diskussionen geführt und viele böse Blicke an Marine Le Pen verteilt. Ich habe bisher an über 170 Gesetzesentwürfen, Resolutionen und Berichten mitgewirkt. Etwas mehr als 80 Praktikanten betreut und bei dutzenden internationalen Missionen das Parlament repräsentiert. Ich organisierte und leitete Verhandlungsprozesse innerhalb des Parlaments, mit dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission zum europäischen Gesetz zum Export von Überwachungstechnologie. Diese Verhandlungen erstreckten sich insgesamt über fünf Jahre und zwei Legislaturperioden und waren nicht immer leicht. In unserer Rolle als Berichterstatter haben wir versucht, so lange wie möglich eine blockierende Mehrheit zu halten, um vom Rat und industriefreundlichen politischen Gruppen unsere Forderungen erfüllt zu bekommen. Bei dieser Arbeit habe ich vor allem gelernt, wie das Parlament funktioniert. Am Ende hatten wir mit einem Großteil unserer Forderungen erfolg. Die letzten 4 Jahre habe ich die Piratenbewegung als Mitarbeiter der tschechischen Piraten Abgeordneten, Marketa Gregorova, kennengelernt und habe bei uns Piraten mein politisches Zuhause gefunden.
Als eines Deiner Ziele gibst Du an, dass Du gerne die European Pirate Academy aufbauen möchtest.
Was genau können wir uns darunter vorstellen?
Die European Pirate Academy wird eine ergänzende gemeinsame Ausbildungsstätte für Piraten Praktikanten aus der gesamten Europäischen Union. Als Abgeordneter würde ich zu Beginn gleichzeitig jeweils 5 Piraten aus Deutschland eine persönliche Betreuung und ein zusätzliches Lernangebot ermöglichen. Für ein einziges Abgeordnetenbüro ist ein solches Unterfangen in diesem Ausmaß nicht einfach, weswegen ich bereits jetzt mit derzeitigen und potenziellen zukünftigen Piraten-Europaabgeordneten spreche, um von Tag 1 richtig loslegen zu können. Ich glaube, dass ein stets erreichbarer und persönlicher Ansprechpartner, gemeinsame Führungen und Stammtische in Brüssel neben der die Möglichkeit andere Piraten aus Europa kennenzulernen, jedes Praktikum verbessert. Als Abgeordneter verfügt man über verschiedene Budgets, welche für dieses Projekt eingesetzt werden können. Ich plane das Fraktionsbudget, sowie Teile des Personalbudgets und der persönlichen Anwesenheitspauschale dafür zu nutzen. Je mehr andere Piratenabgeordnete mitmachen, desto größer kann eine Gruppe werden. Die European Pirate Academy soll und kann nicht das gesamte Praktikum ausfüllen. Damit sich aber jeder ein Bild machen kann, habe ich folgende Themen geplant:
1. Modul: Grundlagen des Europäischen Parlaments
- Praktisches Wissen: Wo ist was und wer ist wer?
- Komitees: Gastbeiträge durch wissenschaftliche Mitarbeiter jeweiliger Ausschüsse
- Gesetzgebungsverfahren: Kommissionsgesetzesvorschläge, Ratsarbeitsgruppen und Trilogverhandlungen
- OPSEC, OSINT und Social Engineering im Europäischen Parlament: Gastbeiträge
- Grundlagen des Debattierens
- Fraktionen und Koalitionsbildung: Der Feind meines Feindes
2. Modul: Lobbyarbeit und Öffentlichkeit
- Lobbylandschaft in Brüssel: Gastbeiträge durch NGOs
- Geld, Macht und Transparenz: follow the money, Korruption und Verschleierung
- Taktik und Strategie der politischen Einflussnahme: Gastbeiträge durch praktizierende Lobbyisten
- Arbeit mit Journalisten und Quellenschutz: Gastbeiträge durch Journalisten
3. Modul: Anwendung des Wissens aus Modul 1 und 2 in Verhandlungssimulationen
- Verhandlungssimulation: Kommissionsgesetzesvorschlag
- Verhandlungssimulation: Die Parlamentsposition
- Verhandlungssimulation: Die Ratsposition
- Verhandlungssimulation: Open-End Trilog-verhandlungen
- Auswertung und Siegerehrung
Mein langfristiges Ziel ist es, Piraten so praxisorientiert wie möglich am Europäischen Parlament und am Leben in Brüssel teilhaben zu lassen und ausbilden zu können.
Du schreibst außerdem, dass Du die Zusammenarbeit zwischen Mandat und Partei erweitern und vertiefen willst.
Wie genau soll das aussehen?
Zum einen glaube ich, dass die European Pirate Academy hier schon einen guten Anteil an erweiterter Zusammenarbeit leisten kann. Ich werde auch meine Kontakte mit anderen Parteien, NGOs und Journalisten aus Brüssel für uns in Deutschland aktiv nutzen, um gemeinsame öffentliche Aktionen durchzuführen. Konkret werde ich auch Mandatsträgerbeiträge an die Partei abgeben und bin auch bereit, für politische Kampagnen meine Zeit und meine eigenen finanziellen Mittel einzusetzen. Mit der Sperrklausel im Rücken geht es bei uns im Europäischen Parlament in den nächsten 5 Jahren auch um das politische Überleben!
Wenn Du schreibst, dass Du mehr Kampagnen möchtest, wie z.B. die Artikel 13 Kampagne.
Wie kann ich mir das dann vorstellen bzw. an welche hast Du dabei gedacht?
Die Aktionen zu ACTA, TTIP, CETA, Copyright, Artikel 13 und Chatkontrolle sind alles sehr gute Beispiele für erfolgreiche Kampagnen. An einigen von Ihnen habe ich mitgewirkt, besonders bei TTIP und CETA. Was sie alle gemeinsam haben, ist die Mobilisierung von Bürgern für komplexe und abstrakte Probleme. Diese Sensibilisierung und Mobilisierung wiederum verschafft den Verhandlern im Europäischen Parlament die Möglichkeiten, diese Gesetze zu verbessern oder schlechte Gesetze schlicht ganz zu verhindern. Um erfolgreich zu sein, muss man nach meiner Erfahrung die richtigen Menschen auf Kampagnen ansetzen, sie gut mit NGOs und Presse vernetzen und Ihnen genug Entscheidungsfreiheit und Ressourcen bereitstellen, um Ihre Ideen zu verwirklichen. Thematisch ist für mich der Handel mit Spionagesoftware ein potenzielles Thema. Der PEGASUS Ausschuss hat hier perfekte Vorlagen geliefert und die Skandale um ausgespähte Bundeskanzler und Präsidenten werden im kommenden Jahr immer mehr zunehmen. Ich kann mir auch gute Kampagnen zu gegenwärtigen Verhandlungen bei wichtigen Themen wie soziale Gerechtigkeit, Klimawandel oder zu Menschenrechten vorstellen.
Da Du ja bereits seit 9 Jahren im Europäischen Parlament tätig bist.
Wie gut bist Du in Brüssel vernetzt?
Ich habe viele unterschiedliche Freundschaften in der Zeit geschlossen und so über die Jahre Freunde und Bekannte in den Institutionen, bei NGOs, bei Zeitschriften oder bei verschiedenen Lobbys machen können. Es hilft auch ungemein, an zwei Universitäten studiert zu haben, die in Brüssel viele Alumni haben. Geschätzt die Hälfte der Menschen in der Europäischen Kommission haben entweder auch in Maastricht oder an der London School of Economics studiert und so treffe ich oft bei Alumniveranstaltungen, Kommissare, Abgeordnete und Botschafter, die ich sonst als einfacher wissenschaftlicher Mitarbeiter nicht so leicht kennenlernen könnte. Zum Beispiel habe ich den CETA Chefverhandler der Kommission bei einem Alumniabend kennengelernt und daraus produktive Treffen zwischen ihm und meinem Abgeordneten arrangieren können.
Gibt es etwas, was Dir an der Arbeit der Gruppe der Piraten im Europaparlament besonders gefällt, Dich beeindruckt hat?
Neben unseren vier Abgeordneten beeindrucken mich am meisten die Mitarbeiter in der europäischen Piratenfraktion. Ich habe bisher in keiner anderen Gruppe so viele talentierte Menschen auf einmal gesehen. Jeder ist aus den richtigen Gründen und aus tiefer politischer Überzeugung bei uns und sie sind alle ausnahmslos gut in Ihrem Job. Meine Abgeordnete, Marketa Gregorova, ist eine der talentiertesten und aufrichtigsten Menschen, die ich kenne. Nach einem längeren Gespräch, in dem sie Rat von mir über Ihre Kandidatur eingeholt hat, hat sie es geschafft, mich davon zu überzeugen, selbst parteipolitisch aktiv zu werden und zu kandidieren.
Für die Europawahl wurde das Wahlalter auf 16 gesetzt. Das bedeutet, eine Menge junger Leute sind wahlberechtigt.
Mit welchem Wahlkampfthema sollten wir besonders die jungen Wähler ansprechen?
Freiheit, Würde und Teilhabe sollten selbstverständlich unsere Wahlkampfthemen sein. Für junge Wähler sind diese Themen mindestens genauso wichtig. Ich denke auch, dass wir ein besonderes Alleinstellungsmerkmal bei digitalen Themen haben und uns vor allem hier zugetraut wird, die gesetzlichen Weichen richtigzustellen. Fast jeder junge Mensch ist mit Internet, sozialen Medien und Messenger Apps aufgewachsen. Junge Menschen sind deshalb am besten für die Gefahren sensibilisiert, die auf uns in der digitalen Welt zukommen. Sie verstehen, wie wichtig sichere Kommunikation ist und wollen nicht von kommerziellen Interessen der Internetgiganten manipuliert werden und nur polarisierende und gefilterte Informationen erhalten. Die Piratebay war für mich als junger Mensch eine der wichtigsten Quellen für freie, ungefilterte Informationen und hat mich auch politisch geprägt. Piraten sind unabdingbar!
Wir dürfen aber auch nicht die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland vernachlässigen, denn Würde und Teilhabe haben eine materielle Komponente. Auch die Klimakrise und ein heißer Krieg auf dem europäischen Kontinent zeigen gerade, dass existentielle Gefahren uns alle etwas angehen müssen, und das nicht nur im Wahlkampf.
Die Klimakatastrophe wird vermutlich ein Generationenproblem und uns noch auf Jahrzehnte begleiten.
Kann das Europaparlament einen Beitrag zur Bewältigung der Klimakatastrophe leisten?
Das Europäische Parlament spielt eine zentrale Rolle bei der Lösung der Klimakrise. Die im Europäischen Parlament verhandelte Gesetzgebung hat weite ökonomische und ökologische Konsequenzen im größten Binnenmarkt der Welt – in der ganzen EU. Wenn wir zum Beispiel einen Standard für Erneuerbare Energie bestimmen, werden diese oft in anderen Ländern außerhalb der EU automatisch übernommen, um den größten und reichsten Markt nicht zu verlieren. Das Parlament ist die direkt gewählte Institution in diesem Prozess und damit am nächsten an den Interessen der Bevölkerung und am ehesten in der Lage, großen kommerziellen und fossilen Industrieinteressen Paroli zu bieten. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass es weiterhin eine starke Stimme für den Klimaschutz in Europa und darüber hinaus bleibt und dafür braucht es mehr Piratenabgeordnete und weniger konservative Stimmen, die an veralteten Ideen festhalten wollen.
Da Du schon so lange für Europa sozusagen tätig bist, stellt sich eine Frage.
Was verbindet Dich mit “Europa”?
1994 zog meine Familie von Usbekistan nach Deutschland. Das ist das erste Mal, dass ich das Wort „Europa“ hörte. Meine Mutter sagte, wir reisen nach Europa und ich werde meine Freunde eine Weile nicht sehen. Da ich in Usbekistan noch nicht zur Schule ging, hatte ich keine Vorstellung, wo und was Europa ist. Meine Wertschätzung für Europa und die Europäische Union beruht zu einem großen Teil auf dem Kontrast zu meinem Geburtsort. Wenn ich mich an Usbekistan erinnere, denke ich an den Geruch von verbranntem Holz und Reifen, an bellende Hunde und an dichten Nebel, der regelmäßig durch die unkontrollierte Umweltverschmutzung der Schwerindustrie in der Stadt Olmaliq verursacht wurde. Ich hatte eine glückliche Kindheit und spielte die meiste Zeit unbesorgt draußen, aber nichts im Vergleich zu meinem Leben und den Möglichkeiten in Europa. Als ich älter wurde und anfing, etwas über Geschichte, die Weltkriege und den Kampf zwischen Diktaturen und Demokratie zu lernen, begann ich aktiv zu recherchieren, was zur Flucht unserer Familie führte. Mir wurde klar, dass meine Zukunft die Europäische Union ist. Das Europäische Parlament ist seitdem mein Lieblingsort und das Ziel, die Europäische Union zu festigen, hat sich seither nur verstärkt.
Welchen Listenplatz strebst Du an?
Alles ab Platz 2. Als parteipolitischer Rookie muss ich noch vieles lernen, aber ich glaube, als Abgeordneter bei einem möglichen zweiten Piratenmandat bei dieser Europawahl meine Expertise und Erfahrung in Brüssel am effektivsten für die Partei einsetzen zu können.
Das Interview wurde offline geführt. Vielen Dank für das Interview an Paul Diegel.
Ullrich Slusarczyk
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.