Ein Gastkommentar von RA Prof. Dr. Andreas Gran, LL.M.
Anarchistinnen und Anarchisten sollten sich bei allem Verständnis ihres Gesellschaftsideals dem praktikableren basisdemokratischen Sozialliberalismus anschließen, denn dieser ist in unserer Gesellschaftsordnung realisierbar und nicht nur Utopie. Dazu einige Gedanken:
1. Missverstandener Anarchismus
Bei „chaotischen“ Gesellschaftsentwicklungen – in welcher Krisenregion auch immer – wird oft das Schreckgespenst „Anarchie“ in Politik, Medien und Öffentlichkeit furchteinflößend erwähnt. Dabei wird das freiheitliche Ideal des Franzosen Pierre-Joseph Proudhon, dem Vordenker des sog. solidarischen Anarchismus, allerdings komplett missverstanden. Die bedrohlichste Gefahr für uns überzeugte Demokratinnen und Demokraten ist nämlich menschenverachtende, Macht missbrauchende Autokratie, also übergriffige Staatspräsenz. Mit menschenfreundlichem, machtkritischem Anarchismus als anarchistische (libertäre) Lehre verbindet hingegen die gemeinsame Angst vor nicht kontrollierbarer Herrschaftsmacht. Hier muss im gesellschaftlichen und medialen Diskurs besonnen, differenziert und nicht über einen Kamm geschoren werden. Dies gilt umso mehr, da der anarchistische Gesellschaftstraum – den viele junge unangepasste Menschen haben – ideologische Parallelen zum praktikableren Sozialliberalismus aufweist. Umgangssprachlich wird also der Begriff Anarchie oft schlicht als Synonym für chaotische Unordnung und Unrecht, einhergehend mit Gewalt, genutzt. Selten wird Anarchie mit Menschlichkeit in Einklang gebracht, mit Vertrauen, dass Menschen aus eigener Kraft soziale Kompetenz entwickeln, mit Zuversicht, dass daraus eine funktionsfähige Gesellschaft reifen könnte. Das ist allerdings die eigentliche Philosophie – vielleicht Utopie. Im Fokus steht autonome Sozialkompetenz, in der ein Mensch nicht als unsoziales Objekt empfunden wird, das durch höhere Kraft geführt werden muss.
Ernsthafter Anarchismus glorifiziert Unordnung und Unrecht nicht. Tatsächlich ist dieser vielmehr auf herrschaftslose (rechtliche) Ordnung gerichtet: Solidarisches Zusammenleben, basierend auf solidarischem Bewusstsein. Deshalb besteht das Symbol der Anarchie aus einem A für Anarchy und einem O (keinem Kreis) für Order. Dass eine Rechtsordnung in der Theorie vorstellbar ist, wenn Mitmenschen einander Rechte freiwillig zugestehen und Pflichten bereitwillig übernehmen, ist das Ideal einer Rechtsgemeinschaft, mag es auch mit Naivität einhergehen. Auch dort würde es beispielsweise Vorfahrtsregeln geben müssen, denn sie dienen der Verkehrssicherheit, wären aber nur getragen von freiwilliger Akzeptanz. Aus rechtstheoretischer Sicht erinnert dies an Gedanken der sog. Naturalisten, die Recht nicht als Ergebnis kodifizierender Staatsmacht, sondern als natürliche Gegebenheit empfinden, welche es (nur) zu entdecken gelte.
Hang zur Gewalt und solches Vertrauen in rechtskonforme Sozialkompetenz passen nicht zusammen. Deshalb sollten sich Gewaltbereite nicht anmaßen, für ernstzunehmende Anarchieideale einzutreten. Sie schaden dem Streben nach einer freien Solidargemeinschaft, indem sie deren Machbarkeit anschaulich widerlegen. Allerdings meinen einige aus der vermeintlichen Anhängerschaft, das bestehende System möglichst schnell voller Ungeduld und sogar gewaltsam überwinden zu müssen. Und auch deshalb wird eine eigentlich menschenfreundliche Gesellschaftsanschauung keineswegs so wahrgenommen. Tatsächlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass in der Realität die Missbilligung bereits begünstigt wird, weil dieses Symbol öffentlich oft eine Sachbeschädigung darstellt. Wer es so missbraucht, erweist dem Ideal keinen Liebesdienst. Geworfene Flaschen, Steine, Feuerwerkskörper treffen Anarchismus und Demokratie, nicht aber die Autokratie, die dafür dankbar ist, weil sie so ihren Führungsanspruch bekräftigt. Deshalb sind schon früher, vor der faschistischen Machtergreifung, die Bürgerlichen scharenweise übergelaufen. Nur autonom friedliches, also funktionierendes Sozialverhalten ist allerdings das Argument, um Staatskontrolle entbehrlicher zu machen.
2. Antifa und Sozialliberalismus
Inwiefern ist vor diesem Hintergrund das anarchistische Ideal, wie es in der staatskritischen sog. antifaschistischen Aktion ein Gesicht hat, mit dem im Ansatz teils artverwandten Sozialliberalismus vereinbar? Die Flaggen der Bewegung „Antifa“ umfassen diejenige des Sozialismus in roter Farbe, der mit dem Liberalismus wegen der Staatshörigkeit nicht in Einklang zu bringen ist. Wer dem nacheifert, kann den Liberalismus nicht stärken und fördert unfreie, Macht missbrauchende Zustände, wie in der DDR. Demgegenüber steht „Antifa“ auch für die mit der schwarzen Flagge verbundene Anarchie. Wie aufgezeigt, ist dies kein grundsätzlich abzulehnendes Ideal, denn es basiert auch auf Menschlichkeit und Abneigung der Autokratie. Doch nun zur nicht zu verharmlosenden Gefahr: Die libertäre Zielsetzung ist nämlich bedenklich und teils sogar mit unserem Grundgesetz unvereinbar, weil sie in Konsequenz darauf abzielt, als Systemwechsel parlamentarische Demokratie abzuschaffen, denn diese kommt nicht ohne jegliche (wenn auch zeitlich begrenzte) Leitungsstrukturen aus. Auch Demokratiebefürwortende sind kritisch gegenüber staatlicher Macht, lassen diese aber vorübergehend zu, mit der Möglichkeit der unblutigen Überwindung bei der nächsten Wahl. Leider ist das riskant, weil sich bis dahin Machtstrukturen verfestigen und die Abwählbarkeit verhindert werden könnte. Im Anarchismus wird aus dieser Sorge heraus auch temporär anvertraute Macht abgelehnt. So bezeichnete der Anarchist und Antifaschist Erich Mühsam – wie sein Weggefährte Gustav Landauer ermordet von Nationalsozialisten – demokratische Wahlen pauschal als „Humbug“, und das sind sie nicht. Sie sind aktuell alternativlos.
3. Machbarkeit
Praxistauglichkeit anarchistischer Gesellschaftsmodelle muss ohnehin bezweifelt werden, denn auch autonome Strukturen kommen nicht ohne verbindliche Entscheidungsfindung aus, etwa durch eine Hausordnung im besetzten Objekt durch das Plenum oder durch Ausschluss aus der Szene bei unsozialer Übergriffigkeit. Bereits dies ist faktisch Basisdemokratie, und durchweg anarchistische Strukturen gibt es nicht. Ein überzeugender Kritikpunkt ist außerdem das potenziell Unsoziale, denn in der Realität verhalten sich Menschen bedauerlicherweise nicht stets solidarisch. Zu kraftvoll ist oft der innewohnende Egoismus. Dies gilt insbesondere für eine völlig unregulierte Wirtschaft. Die stärksten Wettbewerber würden ohne Kartellrecht den Markt beherrschen, Arbeitsschutz, Elternschutz, Mietschutz usw. würden verkümmern, denn rücksichtslose „Wirtschaftsanarchie“ und eigennütziger „Neoliberalismus“ sind nicht Ausdruck von Empathie, sondern fördern monetäre Gier. Unter sozialen Gesichtspunkten wird also eine ausgleichende Obrigkeit für sozialen Frieden helfen können.
Deshalb bleibt der Anarchismus eine theoretische Wunschvorstellung, aber zugleich Aufmunterung zu Sozialkompetenz. Es ist also eine rechtssoziologisch-idealisierte Gesellschaftsperspektive, nicht nur die fiktive Welt von Pipi Langstrumpf. In der Ausgangsmotivation ist das kein Gegenpol zur Demokratie. Demokratische Gesinnung ist dabei realpolitisch machbarer und zielführender zur Machtkontrolle, konkret in Gestalt des machtkritischen Sozialliberalismus, dessen riesiges gesellschaftliches Potenzial gehoben werden muss, weil politische Parteien allzu oft selbstverliebt der Machtverlockung verfallen. Das Ausufern von Lobbyismus und konkret die absurden Verflechtungen wie beispielsweise beim sogenannten Maskendeal in einer verängstigten und kontrollierten Gesellschaft, sind klare Warnzeichen. Verkürzte Wahlperioden und politische Transparenz entsprechen genau dieser Obrigkeitsabneigung. Es braucht dringend derartige (wohlgemerkt verfassungskonforme) außerparlamentarische Opposition als frischen Wind in unserer Demokratie, damit diese nicht von verkrusteten Machtinteressen der etablierten Parteien ausgehebelt wird. Das gilt für beide Arten der Machtstreber, autoritär-konservative Rechte und staatssozialistische Linke.
4. Notwendige Sozialkompetenz
Weder sollten vor diesem Hintergrund anarchistische Ideale an Stammtischen undifferenziert missverstanden werden, noch sollten sogenannte randalierende Chaoten das gewaltfreie libertäre Idealbild ad absurdum führen. Machtkritik und Sehnsucht nach freiwilliger Solidarität, wie auch zwischenmenschliches Gönnen nach oben und nach unten, sind in unserer Welt mit zunehmenden Autokratien wichtig. Hier sollten alle sozial kompetenten Freiheitsliebenden gemeinsam und gewaltfrei an einem Strang ziehen, damit sich nicht Autokraten durchsetzen, während deren Gegner einander missverstehen. Anarchismus ist die Utopie, Sozialliberalismus der Weg.
Bei Alledem muss eins stets bedacht werden: Liberalismus braucht Sozialkompetenz ohne Protz und Popanz, sonst wird er nicht die Akzeptanz der sozial schwächeren Menschen finden. Viele schreien nämlich nach dem Staat, er möge die Nation zusammenhalten, er solle umverteilen und er solle verbieten, aber bitte immer nur den Anderen. Da unterscheiden sich sogar Wagenknecht und Höcke nicht. Linke wie Rechte lieben Obrigkeit, glauben an den „starken Staat“. Das ist aber ein Irrweg! Warum nur wollen viele so gerne regieren oder regiert werden und wo ist das Vertrauen in Menschen? Es gibt ihn nicht, den guten Herrscher, keinen “gerechten Umverteiler”. Wer Macht hat, der unterliegt Verlockungen und spätestens seit den unverfrorenen sogenannten Maskendeals müsste doch eigentlich nur noch skeptische Sorge gegenüber Machtmenschen durchgreifen. Aber selbst dabei kamen Egomanen mit dem Argument “wir schützen Euch nur” durch. Staatsvertrauen ist nicht die Lösung.
Doch nun zum Problem: Liberalismus als Gegenkonzept ist suspekt, weil Egoismen gefördert werden und das auch noch offener als beim scheinheiligen Vorgehen mancher Staatsdiener. Wenn liberale Politiker antreten und offen Klassenunterschiede vorleben, ist verständlich, dass die “kleinen Leute” sozialistischen Versprechen, den “Bonzen” auf den Leib zu rücken, Sympathie entgegenbringen. Menschen jenseits der Futternäpfe unserer Konsumgesellschaft fürchten das Faustrecht, das Recht des Stärkeren, den Darwinismus (struggle vor life – survival of the fittest / Kampf ums Überleben – nur der Stärkste überlebt). Deshalb vertrauen sie lieber dem Staat und bilden sich ein, dass dort mehr Verantwortung bestünde, trotz der DDR-Erfahrungen.
5. Fazit
Während Anarchie kaum landesweit umsetzbar sein dürfte und die dem nacheifernde Bewegung Antifa wegen ihrer Negierung des staatlichen Gewaltmonopols insgesamt kritisch erscheint, ist der basisdemokratische Liberalismus in menschlicher Gestalt die beste aller Gesellschaftsformen. Doch dies bedarf eines breiten sozialen Konsenses, gefördert durch Erziehung, Bildung und Austausch. Authentische Liberale müssen bei aller Freiheitsliebe ihre Sozialkompetenz konsequent glaubhaft belegen. Es ist nicht sinnvoll, durch pompösen Lifestyle den Liberalismus als Gesellschaftsideal angreifbar zu machen oder gar durch fragwürdige Verknüpfungen mit der Wirtschaft. Neid ist menschliche Emotion und wer den Liberalismus als beste Alternative zu Obrigkeit fördern will, sollte sich tunlichst in Bescheidenheit üben, als Zeichen sozialer Kompetenz anstelle von Geltungsdrang. Für eine sozial kompetente und zugleich menschenfreundliche liberale Gesellschaftsidee steht keine der etablierten Parteien, weil sie etabliert sind. Wichtig ist deshalb dass “Sozialliberalismus” in klarer Abgrenzung zum Sozialismus einerseits und zum Neoliberalismus andererseits ein politisches Profil hat. Dazu ist die Piratenpartei der größte Hoffnungsschimmer.
Andreas Gran