Ein Gastkommentar von RA Prof. Dr. Andreas Gran, LL.M.
1967 wurde in der sog. Kommune 1 als Wohnprojekt in Berlin ein Versuch unternommen, zur bürgerlichen Kleinfamilie Gegenkultur vorzuleben, solidarisch, enthemmt, polygam und progressiv. Knapp zwei Jahre wurde der Spießigkeit getrotzt, ohne dass das Projekt damals allgemeinen Zuspruch in der Gesellschaft gefunden hat, wenn auch vielleicht insgeheim der neue Lebensstil beneidet wurde. Wer hätte aber damals wohl erwartet, dass sich neben der klassischen Ehe mit dem Gemahl im Büro und der Gattin am Herd andere Formen des Zusammenlebens viele Jahre später entwickeln würden. Nun wird ein weiterer Schritt in die freiere Gesellschaft getan:
Endlich hat nämlich liberale Politik einen wichtigen Aspekt der freien Gestaltung privater Lebensbereiche vorangebracht. Durch die sog. Verantwortungsgemeinschaft soll ab dem kommenden Jahr ein neuer unbürokratischer rechtlicher Weg für Lebensmodelle in Gemeinschaft geebnet werden, weitgehend alters- sowie geschlechterunabhängig, aber insbesondere ohne Trauschein. Das ist solidarisch, modern und überfällig. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, wenn auch mit erheblicher Verzögerung, ist nun ein Gesetzesentwurf ausgearbeitet worden, den das Justizministerium ins Kabinett einbringen will. Durch dieses Gesetz soll ein Konstrukt vorgegeben werden, das vornehmlich die Grundlage für Absicherung die von Menschen in einer Beziehung sein soll, unter anderem hinsichtlich medizinischer Hilfe füreinander.
Können die Leute denn nicht einfach heiraten, wie es „normal“ ist? Seit bald 125 Jahren gibt es bei zwischenmenschlichen Bindungen die Möglichkeit, beim Standesamt den wohl wichtigsten Vertrag zu unterschreiben und damit zahlreiche Rechtsfolgen auszulösen. Dies basiert auf dem ursprünglichen Konstrukt der sogenannten klassischen Hausfrauenehe, dem zutiefst konservativen Gesellschafts- und Geschlechterbild. Mit dem „Ja, ich will“ wird dann vieles automatisch bestimmt. Bequem ist das schon, aber es passt eben oft nicht zur persönlichen Lebensplanung.
Wer all diese vorgegebenen Konsequenzen nicht haben will, kann sich rechtlich beraten lassen und individuelle Lösungen ausarbeiten, aber mal ehrlich, wer tut sich denn den Stress schon an? Genauso wenig, wie die meisten Leute konkrete Rechtsfolgen der Ehe kennen, wollen viele keine solch individuelle Lösung ausarbeiten. Da unser Sozialstaat aber in der Tat seinen Nutzen in einer Vereinfachung unserer Alltagsabläufe haben sollte, ist es sinnvoll, ein solches Rechtskonstrukt anzubieten. Natürlich wäre es besser, wenn alle höchstpersönlich ihre Interessen regeln und der Staat sich komplett heraushalten könnte. Doch das ist unrealistisch, nicht zuletzt wegen der Komplexität des Rechts, das ohnehin nicht wirklich Teil der Allgemeinbildung in Deutschland ist. Obwohl jedes neue Gesetz auf seine Erforderlichkeit kritisch zu hinterfragen ist, liegt hier echtes Potenzial zu Vereinfachung des Miteinanders. Solange der Rechtsstaat Modelle für Beziehungen vorgibt, sollten diese auch eine bedarfsgerechte Bandbreite abdecken.
Ganz wichtig: Zeichen setzen für Solidarität! Solidarisches Miteinander bedarf eines Rahmens, und genau darum geht es, denn wer sich gegenüber seinen Mitmenschen solidarisch verhalten möchte, ist dankbar für eine Rahmung. Viel zu lange ist übersehen worden, wie wichtig ist es ist, dass Menschen hinsichtlich Teilhabe und Würde gefördert werden müssen. Vollkommen zu Recht wird deshalb von den Machern betont, dass dieses Konstrukt Symbolcharakter hat und das soziale Verhältnis fördert. Das Stöckchen kann aber noch weiter vorgeworfen werden.
Vor diesem Hintergrund wäre eher zu überlegen, ob die Verantwortungsgemeinschaft nicht auch in erbrechtlicher Hinsicht intensiviert werden kann. Unser Erbrecht ist nämlich ebenfalls älter als jeder lebende Mensch und kann dazu führen, dass Vermögen an Menschen transferiert werden, mit denen die Erblasserin oder der Erblasser keine zwischenmenschliche Bindung haben, während die Bezugspersonen allenfalls durch ein formbedürftiges Testament bedacht werden können. Und an das eigene Ableben denken faktisch viele auch nicht allzu gerne. Ebenso sollten steuerliche Auswirkungen aufgenommen werden, denn es gibt keine ethische Rechtfertigung, warum Eheleute derart bevorteilt werden. Hinsichtlich der Kinder ist allerdings verständlich, dass diese von einem solchen Gesetz nicht erfasst sind, denn deren Aspekte sind bereits im Bürgerlichen Gesetzbuch umfangreich geregelt.
Kritiker sehen dennoch mal wieder die Gefahr des Werteverlustes und bringen Argumente vor, die nicht überzeugen. Stein des Anstoßes ist die Möglichkeit, diese Verantwortungsgemeinschaft auf mehr als zwei Menschen zu erstrecken. Dabei geht es darum, dass indirekt „Vielehen“ durch das Gesetz anerkannt werden könnten und dass der Staat den Einblick verliere.
Dazu lässt sich sagen, dass keineswegs alles aus dem Intimbereich von Menschen den Staat etwas angeht. Erfreulicherweise kann ohnehin nicht kontrolliert werden, wie beispielsweise in einer autonomen Kommune zusammengelebt wird. Es ist noch immer nicht lange her, dass der Staat sogar gleichgeschlechtliche Beziehungen massiv unterbinden wollte, um das althergebrachte Beziehungsschema zu zementieren. Der Staat hat zu respektieren, wenn sich Bürgerinnen und Bürger andere Lebensformen wünschen als die Konservativen. In diesem Zusammenhang fürchten Kritiker auch, dass Migration derart unkontrolliert erleichtert würde, obwohl dies nicht Ziel der solidarischen Absicherung ist.
Die bürgerlichen Bedenken gehen bereits weiter. Polygamie ist nach wie vor ein Scheckgespenst und außerhalb von Teilen Afrikas weitgehend strafbewehrt. Überhaupt die Vorstellung, Personen könnten nicht nur paarweise harmonieren, irritiert anscheinend. Dass die Gesellschaft überwiegend zu monogamen Beziehungen neigt, macht doch diese Sorge schon weniger relevant. Wenn aber Menschen nicht nur in Zweierbeziehung zueinander stehen wollen, sollte doch zumindest eine solche rechtliche Verbindung unkritisch sein, wie sie hier vom liberalen Justizministerium angestrebt wird. Den Kritikern sei es unbenommen, das sechste Gebot (kein Ehebruch) und das zehnte Gebot (kein Begehren) lebenslang einzuhalten und moralisch auch die sogenannte offene Ehe deshalb zu scheuen, aber sie mögen doch bitte die Toleranz aufbringen, dass sich Menschen freiwillig und vielleicht auch nur vorübergehend zum Erfahrungsgewinn für ein anderes Miteinander entscheiden. Zumal es hier bislang im Kern doch lediglich um die absolut wichtige gesundheitliche Verbundenheit geht und nicht um „Harem-Legalisierung“. Besonders „scheinheilig“ sind solche Kritiken an progressiven Bindungen aber auch, weil viele schlicht unglücklich in Ehe verharren, aber unbedingt nach Außen den Schein wahren wollen.
Kurzum: Für eine moderne Gesellschaft, die uns Raum für individuelle Entfaltung gibt, ist eben ein solcher Vorstoß wichtig, auch als Zeichen für staatliche Toleranz. Sozialer Liberalismus erweist sich hier als hilfreich, weil es hier nicht um Obrigkeitsbevormundung, sondern um juristische Vereinfachung von Individualität geht. Im Fokus muss immer stehen, dass Menschen glücklich leben wollen und sollen. Konservative Zwanghaftigkeit erweist sich da allzu oft als Hemmschuh.
Andreas Gran