Ein Gastbeitrag von Nico Kern (aka @TeilerDoehrden)
Nachdem der Gesetzentwurf der Regierungskoalition zur Änderung des Bundestagswahlgesetzes den Innenausschuss des Bundestages passiert hat, wird die Novelle voraussichtlich heute, am 29.09, in zweiter und dritter Lesung vom Parlament verabschiedet werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 2008 das aktuelle Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber in sein Hausaufgabenheft eine dreijährige Frist zur Überarbeitung diktiert. Diese war bereits am 30.06.2011 abgelaufen (die Flaschenposte berichtete). Gegenüber der Presse hatte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Andreas Voßkuhle, bereits unverblümt gedroht, per einstweiliger Anordnung selbst ein verfassungsgemäßes Wahlrecht zu schaffen, falls der Gesetzgeber untätig bleiben sollte (“Notfalls machen wir es selbst”).
Grund für die Verfassungswidrigkeit war das sogenannte negative Stimmgewicht. Dieses konnte im bestehenden Wahlrecht in bestimmten Fällen zu der Paradoxie führen, dass eine Partei einen Sitz im Parlament verlor, wenn sie in einem Bundesland “zu viel” Zweitstimmen erhielt und umgekehrt.
Diesem Manko soll der Gesetzesvorschlag nun abhelfen. Die wesentliche Änderung im Regierungsentwurf besteht in der Aufhebung der üblicherweise erfolgten Listenverbindungen der verschiedenen Landesverbände einer Partei und einer damit einhergehenden Änderung der Stimmenverrechnungsmethode. Bislang wurden die Mandate zuerst anhand der Zweitstimmen an die Parteien verteilt und dann den einzelnen Landeslisten zugeteilt. In Zukunft soll die Verrechnung genau umgekehrt erfolgen: Zunächst sollen die Parlamentssitze aufgrund der Wählerstimmen auf die Länder verteilt werden und dann erst auf die einzelnen Parteien. Damit soll vermieden werden, dass durch die Verrechnung zwischen den Landeslisten Mandatsverschiebungen auftreten, die dann zu einem negativen Stimmgewicht führen können.
Kritiker, wie Martin Fehndrich von wahlrecht.de, bezweifeln, dass die neue Regelung tatsächlich den gewünschten Erfolg hat, sondern befürchten, dass es weiter zu Ungereimtheiten beim Wahlgang kommt. Die Kritik entzündet sich nicht nur daran, dass die Neuregelung sprachlich absolut missglückt ist, so dass es quasi unmöglich erscheint, den Sinn der Regelung auf Anhieb zu erfassen, sondern mit der Neuregelung gehen nach Ansicht der Kritiker auch neue Probleme einher, die wiederum an anderer Stelle zu einem negativem Stimmgewicht führen können.
Eng verknüpft mit dem negativen Stimmgewicht ist das Problem der Überhangmandate. Bei der letzten Bundestagswahl hatte ausschließlich die Union Überhangmandate erzielt. Überhangmandate entstehen, wenn einer Partei durch ihr Erststimmenergebnis mehr Direktmandate als nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Die Oppositionsparteien sind gegen Überhangmandate und würden diese gerne abschaffen. Diesem Ansinnen hatte sich die Regierungsmehrheit aus nahe liegenden Gründen verschlossen. Nach ihrer Lesart hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht per se gegen Überhangmandate ausgesprochen, sondern explizit nur gegen das negative Stimmgewicht. Die ansonsten traditionell parteiübergreifende Zusammenarbeit bei der Wahlrechtsreform war daher nicht zustande gekommen. Die Oppositionsparteien halten den Regierungsentwurf für verfassungswidrig und haben, ebenso der Verein “Mehr Demokratie e.V.“, bereits eine erneute Klage vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt.
Zum Thema des verfassungswidrigen Wahlrechts findet am Samstag den 08.10.2011 eine Podiumsdiskussion statt, über die ihr hier mehr erfahren könnt.