Gastartikel von Sven Krohlas, pol. GF der Piratenpartei Baden-Württemberg
Am 9. November war ich als offizieller Vertreter der Piratenpartei bei der Urteilsverkündung zur 5%-Sperrklausel bei Europawahlen anwesend. Da diese Ehre sicher auch noch anderen Piraten zu teil werden wird, möchte ich hier den Ablauf einer Urteilsverkündung skizzieren, damit diese nicht wie ich einfach ins kalte Wasser springen müssen. Auch das Urteil selbst werde ich natürlich später erläutern.
Vorgeschichte
Am 26. Oktober 2011 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Einladung zur Urteilsverkündung zur Sache “5%-Hürde im Europawahlrecht” in Form einer Pressemitteilung. Am nächsten Morgen habe ich mich dazu entschlossen, einen Besucherplatz zu reservieren. Schließlich geht es bei diesem Urteil um ein Thema, das uns als Piratenpartei direkt betrifft.
Die erfolgreiche Reservierung habe ich auch auf der Vorstandsliste bekannt gegeben und mich als Presseansprechpartner zur Verfügung gestellt. Am 31. Oktober schließlich bekam ich von der Bundesgeschäftsstelle ein PDF weiter geleitet: Die offizielle Einladung für Verfahrensbeteiligte. Neben dem Bundeskanzleramt, dem Bundesrat, die Landesregierungen und diverse andere Parteien ging dieses Schreiben auch an uns. Somit wurde aus meinem Besucherplatz ein Sitz ganz weit vorne, mit eigenem Namensschild.
(Kleine Anekdote am Rande. Die Anmeldung für Verfahrensbeteiligte muss schriftlich erfolgen. E-Mail geht dabei auch, jedoch hat das BVerfG als Ganzes nur eine einzige öffentliche Mailadresse. Man darf also seinen Mails hinterher telefonieren…)
Daraufhin habe ich mich natürlich um so tiefer mit dem Verfahren befasst und mich auch mit Andi Popp, unseren Europaabgeordneten nach dem Urteil in spe, abgesprochen. Am Tag vor der Urteilsverkündung am 9. November war ich zugegebenermaßen aufgeregt wie schon lange vor keinem Termin mehr. Dazu hat auch ein Anruf der ARD beigetragen, die einen großen Beitrag über die Piraten in den Tagesthemen planten, falls die 5%-Hürde gekippt werden würde. Mit der Reporterin habe ich mich am Vorabend für Vorabsprachen fast 30 Minuten am Telefon unterhalten. Für Piraten, die noch nicht so viele Pressekontakte hatten: Das ist lange. Sehr lange. Sogar eine schnelle Fahrt nach Straßburg für Aufnahmen im Plenarsaal des Europaparlaments war angedacht.
Nervös, jedoch gut vorbereitet, habe ich mich am 9. November für eine 45 minütige Radtour durch den Hardtwald zum BVerfG auf’s Rad gesetzt. Dort wurde ich auch bereits eine Stunde vor Urteilsverkündung von Pressevertretern erwartet, die erste Vorabstatements wollten und für die üblichen Füllbilder die Verfahrensbeteiligten immer wieder durch die Gänge zur ihren Plätzen liefen ließen… man kennt diese Spielchen inzwischen ja.
Pünktlich um 10 Uhr wurde es schließlich ernst:
Die Urteilsverkündung
Ich habe mich vorab so gut wie möglich über die Abläufe am BVerfG informiert. Hierfür möchte ich mich auch noch einmal bei den anwesenden Pressevertretern bedanken, die auch mir ein paar Fragen beantworten konnten.
Die Urteilsverkündung ist ein besonders ritualisierter Vorgang, der sehr stark von dem Respekt gegenüber unserem höchsten Gericht geprägt ist. Nach der Aufforderung einer Saaldienerin mit durchdringender Stimme, auf die zugewiesenen Plätze zu gehen, werden die Richter angekündigt. Alle Anwesenden erheben sich, die Richter betreten den Saal, setzen sich und lassen den Rest noch einige Sekunden stehen. Ein wirklich Respekt schaffendes Ritual. Erst auf den Hinweis des vorsitzenden Richters setzt sich das Plenum.
Als nächstes werden die anwesenden geladenen Verfahrensbeteiligten und -betroffenen namentlich aufgerufen. Man steht kurz auf, sieht den vorsitzenden Richter an und setzt sich wieder. Meinereiner war hierbei als letztes dran. Die Anwesenheit wird nicht nur am Eingang, sondern auch im Saal kurz vor Ankunft der Richter durch Saaldiener geprüft, sodass die Richter eine aktuelle Liste vor sich haben.
Nun kommt der große Moment, auf den manche Jahre warten mussten. Das Urteil wird verlesen.
Die Verlesung des Urteils besteht aus zwei Teilen. Den Anfang macht der Urteilstenor. Das ist die Kurzfassung, die für juristische Laien wie mich nur sehr schwer verständlich ist. Sie las sich ungefähr so: “§X, Absatz Y, des Gesetzes Z sind mit Artikel A, Absatz B des Grundgesetzes unvereinbar… Im Übrigen werden die Wahlprüfungsbeschwerden zurückgewiesen.”. Ich konnte nur erfahren: Entweder wurde gerade die 5%-Hürde gekippt, oder die starren Listen, möglicherweise auch beides. Auf jeden Fall bleibt die Sitzverteilung bestehen.
Dieser erste Teil geht – Gott sei Dank! – fließend in die Urteilsbegründung über, die in Auszügen verlesen wird. Währenddessen werden Ausdrucke des Urteils verteilt, sodass man, wenn man in der Lage ist, die richtige Stelle zu finden, mitlesen kann. Mich hat das gefühlte fünf Minuten gekostet. Beim Durchblättern des Urteilstextes war jedoch schnell klar: Die Sperrklausel ist weg, die starren Listen bleiben.
Die Verlesung der Urteilsbegründung empfinde ich im Nachhinein als die eigentliche Herausforderung des Tages. Von allen Seiten klicken die Kameras der Presseteams, zeitweise ist der vorsitzende Richter dadurch schwer zu verstehen. Fernsehkameras schwenken durch den Raum. Währenddessen muss man das Urteil erfassen und zentrale Punkte der Begründung heraushören. Man weiß nicht, wie viel Zeit hierfür bleibt. Die Vertreter der ÖDP und Familienpartei neben mir hatten auch heftig zu kämpfen, wir haben uns schließlich gegenseitig zentrale Passagen gezeigt.
Sobald die Begründung verlesen wurde, dies dauerte vielleicht 45 Minuten, geht es richtig los.
Keine 15 Sekunden nachdem die Richter den Saal verlassen hatten, stand schon das erste Kamerateam vor mir und hat mir ein Mikrofon an den Mund gehalten. Jetzt werden Statements im Minutentakt gegeben. Jeder will als erstes das Urteil und Statements dazu an seine Redaktion liefern. Wohl dem, der das Urteil erfassen konnte und sich gut vorbereitet hat.
Bis zum nächsten Tag wurden Aufnahmen und Statements in diversen Nachrichtensendungen verwendet, von der Tagesschau zu den Tagesthemen, Heute und dem Heute Journal und vielleicht auch weiteren, von denen ich nichts weiß. Nur der “Ausflug” nach Straßburg musste entfallen: Da es einige große internationale Ereignisse an diesem Tag gab (Italien, Griechenland, Atomwaffenentwicklung im Iran,…) wurde der Beitrag der Tagesthemen leider gegen Mittag auf eine Minute gekürzt.
Das Urteil
Den Kern des Urteils habe ich ja bereits verraten: Die 5%-Hürde bei Europawahlen ist abgeschafft. Die starren Listen wiederum können bleiben. Es gibt keine neue Sitzverteilung oder gar eine Neuwahl. Das Urteil erging mit 5:3 Stimmen.
Wie meist bei Urteilen des BVerfG ist die Begründung der interessanteste Teil.
Der zentrale Satz, der mich aufhorchen ließ war der folgende:
“Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertreterorgane kann die Fünf-Prozent-Sperrklausel rechtfertigen.”
Und genau dies trifft im Falle des Europaparlaments (EP) nicht zu. Das EP besteht aktuell aus Vertretern von 162 verschiedenen Parteien. Und es funktioniert wunderbar, da diese sich in gerade einmal sieben Fraktionen zusammen geschlossen haben. Zudem es andere Aufgaben hat als der Bundestag oder ein Landesparlament: Es muss beispielsweise keine Regierung durch dauerhafte Mehrheiten stützen.
Zwar kann eine Erhöhung der Parteienzahl, es wären sieben zusätzliche aus Deutschland gewesen, wenn es sofort eine Neuverteilung der Sitze gegeben hätte, durchaus die Arbeit des Parlaments erschweren. Doch dies reicht nach Ansicht des Gerichtes nicht als Begründung für eine Sperrklausel.
Die starren Listen, also Kandidatenlisten mit festgelegter Reihenfolge, die der Wähler nicht verändern kann, wurden vom BVerfG schnell abgehandelt:
“Die im Europawahlgesetz vorgesehene Verhältniswahl nach ‘starren’ Listen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Entsprechendes hat das Bundesverfassungsgericht für nationale Wahlen wiederholt festgestellt. […] Der Beschwerdeführer […] hat keine neuen Argumente vorgetragen, die Anlass zu einer anderen Beurteilung geben.”
Meiner Ansicht nach schwächer wurde das Urteil bei der Abweisung der Wahlprüfungsbeschwerden.
Um eine Wahl tatsächlich wiederholen zu lassen, braucht es einen Wahlfehler, der als “unterträglich anzusehen ist”. Diesen sieht das BVerfG nicht. Es argumentiert stattdessen, dass der Wahlfehler sich “in nicht bestimmbaren Umfang” auf die Wahl ausgewirkt hat:
“Es ist davon auszugehen, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel auch bei der Europawahl 2009 zu strategischem Wahlverhalten geführt hat. Sie mag eine nicht bestimmbare Anzahl von Wählern davon abgehalten haben, eine an sich bevorzugte kleinere Partei zu wählen, sie kann aber auch bewirkt haben, dass eine Reihe von Wählern ihre Stimme demonstrativ kleinen Parteien gerade in Hinblick auf die voraussichtliche Folgenlosigkeit dieser Wahlentscheidung gegeben hat.”
Insbesondere für die Vertreter der Familienpartei war dieser Teil des Urteils ein Skandal. Diese befürchten auch zur nächsten Wahl “zwei Meter lange Stimmzettel”, die weiter zur Politikverdrossenheit beitragen und hätten ihr Mandat am liebsten sofort angetreten.
Davon abgesehen gab es noch mindestens eine weitere Passage des Urteils, das für uns im Rückblick auf 2009 von besonderem Interesse ist:
“Neue politische Vorstellungen werden zum Teil erst über sogenannte Ein-Themen-Parteien ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Es ist gerade Sinn und Zweck der parlamentarischen Debatte, entsprechende Anregungen politisch zu verarbeiten und diesen Vorgang sichtbar zu machen.”
Das Urteil enthält jedoch noch viele weitere interessante Aussagen. Diese alle hier vorzustellen würde jedoch zu weit gehen. Ich verweise einfach auf das Urteil selbst, mit knapp 50 Seiten hat es einen noch überschaubaren Umfang.
Fazit
Anwesenheit bei Urteilsverkündungen des BVerfG ist enorm wichtig. Es ist euch möglicherweise aufgefallen, dass in der Presse fast nur von der Familienpartei, der ÖDP und uns Piraten gesprochen wurde. Der Grund ist einfach: Das waren die einzigen “kleinen” Parteien, die Vertreter zur Urteilsverkündung entsandt haben.
Ich denke, in Zukunft könnten wir auch einen Vertreter bei “piratischen” Urteilen auf einen der Gästeplätze setzen, und der Presse vorher eine Information darüber zukommen lassen. Auch dies würde wohl für den Abdruck einiger Statements sorgen. Die Reservierung von Gästeplätzen läuft unbürokratisch per Telefon.
Besonders wichtig wird für uns jedoch ein Thema, das wir nicht vergessen dürfen: Die Reform der Parteienfinanzierung. Nach der Reform haben die Wähler deutlich weniger Einfluss auf die Verteilung, stattdessen bestimmen Großspender welche Partei wie viel Geld ausgeschüttet bekommt. Dieses Gesetz wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Karlsruhe landen!