Der zweite Tag: Wahlen, Geschäftsordnung und Beiträge statt Programm
Wer gehofft hat, dass der zweite Tag auch Platz für wenigstens einige wenige aus den weit über 200 Programmanträgen haben würde, wurde enttäuscht.
Geschäftsordnungsänderungsanträge und Wahlen prägten auch diesen Tag. Insofern wurde der Eindruck des ersten Tages nicht nur bestätigt, sondern sogar verstärkt: Basisdemokratie erfordert viel, viel Zeit und Geduld – oft auch das Gespür dafür, ob ein Antrag sinnvoll ist, ob es nötig ist, ein Argument zum dritten Mal zu wiederholen, nur damit es wiederholt ist, und ob es nötig ist, Tagesordnungspunkte nach oben, unten oder sonst wohin zu schieben. Interessant dabei: zu beobachten, wie das der “Schwarm” der Teilnehmer empfindet und geradezu routinemäßig dafür sorgt, dass zweitrangige Fragen dieser Art kurz und schmerzlos abgelehnt werden. Nach wenigen Stunden Parteitagserfahrung kann der aufmerksame Beobachter schon prognostizieren, wie ein Antrag wohl bewertet wird.
So wurde aus 2012.1 wie angekündigt überwiegend ein “Wahlparteitag”. Für die Programmarbeit ist im Herbst ein Parteitag in Bochum vorgesehen. Medien und Kritiker müssen also warten, bis sie etwas kriegen, das sie sezieren können. Ich hätte also nichts mehr zu berichten, wenn da nicht ein Thema gewesen wäre, das den Beobachter nachdenklich machte: Der letztendlich geglückte Antrag, die Mitgliedsbeiträge zu erhöhen. Aber es war eine Zangengeburt.
Die Anträge auf Beitragserhöhung teilten das Publikum förmlich in zwei Lager: Das Pro-Lager, mit der Argumentation, dass eine Partei nun mal “planbares Geld” brauche, um die kommenden Aufgaben zu stemmen. Der Beitrag sei ja vergleichsweise eh niedrig und es dürfe wohl kein Problem sein, ihn in diesen Größenordnungen zu erhöhen.
Und das Contra-Lager, bei dem man förmlich spürte, das dort jeder Euro zweimal umgedreht werden muss, bevor er ausgegeben wird. Selbst dann, wenn es möglich ist, relativ unbürokratisch einen ermäßigten Satz zu beantragen.
“Aha,” denkt sich der geneigte Beobachter “…die Partei (zumindest diese) als Spiegel der Gesellschaft.” Und die immer wieder gestellten, von der „etablierten Politik“ nicht befriedigend beantworteten Fragen kommen wieder hoch: Ist nicht schon seit Jahren die Rede von der Zwei-Drittel-Gesellschaft, in der eben zwei Drittel der Bevölkerung noch ein leidlich gutes bis sehr gutes Einkommen verfügen und für deren Angehörige zweistellige Jahresbeiträge keine große Hürde sind – während das dritte Drittel kämpfen muss, um mit seinen Einkünften das tägliche Leben mit Ach und Krach bestreiten zu können? Kriegen wir es nicht Tag für Tag in den Medien präsentiert, wie ein großer Teil der Bevölkerung durch Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Dauer-Praktikum, Dumping-Löhne, Minirente und anderen prekären Zuständen regelrecht von der gesellschaftlichen Teilhabe abgehängt wird? Kann es auf Dauer gut gehen, wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht? Und sind es nicht genau diese Fragen, die viele Menschen am System zweifeln lassen, so dass sie entweder gar nicht mehr wählen gehen, oder aus Protest extremen Parteien ihre Stimme überlassen?
Allein diese Fragen rechtfertigen es, über völlig neue Ansätze wie z. B. das bedingungslose Grundeinkommen nachzudenken. Und wer sich fragt, warum die Piraten momentan einen solchen Zulauf haben, der findet möglicherweise auch darin eine Antwort.
Klar, dass die notorischen Bedenkenträger sofort mit der Frage kommen, wie das bezahlt werden soll. Diese Fragen kommen aber auch von denen, die seit Jahren selbst keinen ausgeglichenen Haushalt auf die Reihe bekommen und sich in Wahlkämpfen gegenseitig vorwerfen, wer denn der größere Schuldenmacher sei. Und das macht sie eben so unglaubwürdig. Selbst in relativen Boomzeiten wie zurzeit kommt keiner auf die Idee, wenigstens mal einen ausgeglichenen Haushalt zu planen. Denn es müssen ja Banken gerettet werden, ohne dass davon auszugehen wäre, dass die “Rettungsmittel” auch sicher zurückgezahlt werden, wenn die Rettung denn gelingt. Irgendwas ist und war immer und insofern kennt zumindest der Autor keine Partei, die dazu ein schlüssiges Konzept hat oder gar umsetzt. Man darf gespannt sein, ob es den Piraten gelingt, etwas zu entwickeln. Ideen dazu gibt es ja.
Doch kommen wir zurück zum Antrag/den Anträgen. Aus der offenen Abstimmung zur Beitragsfestsetzung konnte keine eindeutige Mehrheit ermittelt werden, so dass ein zweites Mal geheim abgestimmt werden musste. Und als ob die Gedankenspielerei “Zwei-Drittel-Gesellschaft” noch einmal bestätigt werden musste: Knapp über zwei Drittel votierten für eine moderate Beitragserhöhung.
Was nehme ich also mit aus dem Parteitag? Es gibt tatsächlich eine ernstzunehmende Anzahl von Leuten, die wenigstens versuchen, den eingefahrenen, verkrusteten, abgehobenen und bestenfalls “indirekt” demokratischen Betrieb dieser Republik aufzubrechen und durch neue Ideen (und seien sie noch so ungewöhnlich) wieder in Schwung zu bringen. Und wenn diese Partei in der Lage ist, diesen Schwung in die Parlamente zu tragen, ohne das Anpassungsschicksal der Grünen zu erleiden, dann wird Politik wieder interessant und die Bürger könnten wieder das Gefühl bekommen, etwas beeinflussen zu können. Wenn ich es irgendwie einrichten kann, will ich in Bochum dabei sein, um diesen Prozess weiter live mitzuerleben.
(Dieser Bericht ist der zweite Teil der Beobachtungen Jürgen Effenberger als Erstbesucher eines Piraten-Bundesparteitags. Der erste Teil ist hier zu finden.)