Der zweitägige Bundesparteitag der Piratenpartei in Neumünster wurde am Samstag um 10:20 Uhr offiziell eröffnet.
Die Holstenhalle in Neumünster war zu diesem Zeitpunkt bereits gut gefüllt. Viele Piraten aus dem ganzen Bundesgebiet waren schon am Freitag Abend angereist und konnten in einer gesonderten Halle die Nacht verbringen. Auch das Wetter passte perfekt. Während in ganz Deutschland mit Temperaturen bis 30 Grad der Sommer Einzug hielt, konnte man sich in Neumünster bei fast winterlichen 11 Grad getrost auf den Parteitag konzentrieren.
Marina Weisband sprach in ihrer Eröffnungsrede über die gestiegene mediale Aufmerksamkeit und darüber, dass mittlerweile vom politischen Gegner mächtig auf die Piraten “geschossen” wird. Um den damit verbundenen Aufgaben gerecht zu werden, rief sie den 1500 Piraten zu: “Lasst uns einen geilen Vorstand wählen!”
Doch darauf mussten die rund 250 anwesenden Pressevertreter bis zum Nachmittag warten. Für den Vormittag sah die Tagesordnung zunächst das Abarbeiten verschiedener Satzungsänderungsanträge vor, die für die Wahl des neuen Bundesvorstandes (BuVo) wichtig waren. So wurde um 10 Uhr mit großer Mehrheit die Vergrößerung des BuVos von bisher sieben auf zukünftig neun Mitglieder beschlossen. Für die Neuwahl bedeutete dies, dass sowohl ein zweiter stellvertretender Bundesvorsitzender wie auch ein dritter Beisitzer gewählt werden musste.
Um 11 Uhr folgten die Tätigkeitsberichte der Mitglieder des alten BuVos. Fast unspektakulär wurden diese zur Kenntnis genommen. Unspektakulär wäre dieser Vormittag auch geblieben, wenn Bundesschatzmeister Rene Brosig das Geschäftsjahr hätte abschließen können. Doch dies war aufgrund von Problemen mit der Datenverwaltung nicht möglich. Obwohl diese Probleme mittlerweile behoben sind, konnte die Nachbuchung bis zum Bundesparteitag nicht abgeschlossen werden. Zahlreiche Redebeiträge gaben Zeugnis darüber, dass man hierfür zwar Verständnis habe, doch dass eine finanzielle Entlastung des Vorstandes wohl keine Mehrheit finden werde. Ebenso kam es dann auch: der BuVo wurde lediglich politisch entlastet und der Weg für Neuwahlen damit frei gemacht, eine finanzielle Entlastung des BuVos wurde jedoch abgelehnt.
Um 14 Uhr hätte dann die Kandidatenvorstellung zur Wahl des Bundesvorsitzenden beginnen sollen, die Versammlungsleitung unterbrach den Parteitag jedoch für 20 Minuten. Im Saal munkelte man, dass dies eventuell mit einigen Vorfällen am Rande der Veranstaltung zu tun haben könnte. Zum einen wurde am Vormittag ein externes Kamerateam gerügt, welches ein mit rechter Symbolik beklebtes Piratenschiffmodell mitgebracht hatte und dies im Pressebereich abfilmte, zum anderen wurde unmittelbar vor der Unterbrechung Carsten Schulz mit den Worten “Carsten Schulz bitte sofort an die Bühne. JETZT – Carsten Schulz, bitte brich dein Interview ab und komm an die Bühne, die Versammlungsleitung muss jetzt mit dir reden”, zur Orga gerufen.
Um 14:30 Uhr ging es dann mit folgender Erklärung des Versammlungsleiters Jan Leutert weiter:
“Ich verlese eine Erklärung der Versammlungsleitung: In einem Fall hat eine TV-Anstalt eine Playmobilfigur unter anderem mit rechtsextremer Symbolik zur Veranstaltung mitgebracht und davon Aufnahmen gemacht. Dies geschah ohne Wissen der Presseabteilung oder der Versammlungsleitung. Eine Billigung der Versammlungsleitung gibt es dafür nicht. Die Versammlungsleitung distanziert sich für den Parteitag von dieser Symbolik und drückt ihr Befremden über derartige Berichterstattung in der Presse aus.
Desweiteren möchte ich mitteilen, und das möchte ich auch vor der Versammlung machen: Ein Mitglied der Piratenpartei Deutschland hat vor der Presse Äußerungen gemacht, man könne es ja nicht strafbar machen, über den Holocaust zu reden oder diesen zu leugnen. Als Reaktion auf diese Statements dieses Mitglieds – der Name ist bekannt und es werden weitere Dinge geprüft – ziehe ich einen sonstigen Antrag vor:
Die Piratenpartei Deutschland erklärt: Der Holocaust ist unbestreitbarer Teil der Geschichte. Ihn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit zu leugnen oder zu relativieren widerspricht den Grundsätzen der Partei.”
Dieser Antrag wurde unter großem Jubel ohne Gegenstimme angenommen. Vielen der anwesenden Piraten war die Erleichterung darüber anzusehen. Mit diesem Sonderbeschluss setzten die Piraten ein sehr deutliches und auch emotionales Zeichen gegen Menschenverachtung und rechtsradikales Gedankengut. Man kann durchaus sagen, dass dies der wichtigste Beschluss des Parteitages war. Der Bayerische Landesvorsitzende Stefan Körner sagte später gegenüber der Flaschenpost: “Dieses Zeichen war genau in dieser Form ein Befreiung für die gesamte Partei – die Piraten sind da ganz nahe zusammengerückt.”
Im weiteren Verlauf des Samstagnachmittags standen dann die Wahlen des Bundesvorsitzenden und dessen Stellvertreter an. Unter großem Applaus präsentierten sich am frühen Abend Bernd Schlömer als neu gewählter Piratenchef sowie Sebastian Nerz und Markus Barenhoff als neue Stellvertreter.
Mit der Wahl von Swanhild Goetze zur neuen Bundesschatzmeisterin und Sven Schomacker, der zum Generalsekretär gewählt wurde, endete der erste Tag des Bundesparteitages um 22:45 Uhr.
Ich hatte anschließend noch Gelegenheit, mit einigen neutralen Beobachtern über deren Eindruck von diesem ersten Tag zu sprechen. Im Grunde waren die Feedbacks ziemlich ähnlich: die Piraten wirken sympathisch, eben weil sie nicht “aalglatt rüber kommen”. Der Umgang miteinander sei oft emotional, aber – zumindest bezogen auf das Geschehen im Stream des Bundesparteitags – stets fair. Allgemeine Überraschung herrschte darüber, dass es möglich ist, bei der Menge an Stimmberechtigten zu Entscheidungen zu kommen. Das deutliche Nein zu Nazis war für alle das Tages-Highlight. Besonders hervorgehoben wurde die Situation, als die Piraten während der Vorstellungsrede von Dietmar Moews die Halle verließen – Moews hatte sich mit seinen Äußerungen zum Judentum in die Kritik gebracht.
Obwohl viele nach 13 1/2 Stunden Parteitag ziemlich erschöpft waren, zog sich die anschließende Parteitags-Fete in einer angrenzenden Location bis weit in die Nacht hinein. Eventuell hatten auch manche Hallenschläfer schlicht Angst vor einer Wiederholung der Schnarchorgie der vergangenen Nacht.
Wer auf die Fete verzichtet und sich in seinem Hotelbett das Laptop auf die Oberschenkel gelegt hatte, um sich in Ausschnitten die Tagesberichterstattung vom Piratenparteitag anzusehen, dürfte sich etwas gewundert haben – zumindest dann, wenn er beispielsweise auf den Phoenix-Bericht gestoßen war. Dort war ein Moderator zu sehen, der tatsächlich nicht versehen konnte, weshalb sein Team während einer geheimen Wahl nicht filmen durfte. Sein Unverständnis war um so größer, weil die Kameras ja gar nicht direkt in den Saal gefilmt hätten. Vor Ort war indessen problemlos mitzubekommen, dass vor jeder geheimen Abstimmung die Presse teils mehrfach und stets höflich aufgefordert wurde, die Kameras während der Stimmabgabe auszuschalten. Fraglich, ob Phoenix (und die Piraten) mehr Freude an einer Regelung hätten, die jedem Kameramann einen Bildausschnittsüberwachungspiraten an die Seite stellen würde – vielleicht ist das Grundprinzip einer geheimen Wahl wirklich am einfachsten dadurch gewährleistet, wenn bei geheimen Wahlen schlicht nicht gefilmt wird.
Darüber hinaus wurde in vielen Berichten über den ersten Tag des Bundesparteitags deutlich, wie schwer sich auch Medien mit Begrifflichkeiten wie Transparenz, Beteiligung und Schwarmintelligenz tun – vom Urheberrecht ganz zu schweigen. So konnte man mehrfach lesen, dass von 29000 Piraten nur rund 2000 in der Halle waren und daher Entscheidungen nicht von der gesamten Basis getroffen worden seien. Dass sich die Piratenpartei nicht nur über jedes Mitglied freut, welches zu einem Parteitag kommt, sondern bereits Modelle dezentraler Parteitage erprobt, um noch mehr Piraten direkt an die Wahlurnen zu bringen – darüber las man nichts. Ebenso wenig über den Grundwert einer niedrigschwelligen Mitbestimmung, welches jeden Basispiraten bereits mit seinem Parteieintritt zum antragsberechtigten Delegierten und somit zu einem Mitentscheider macht. Vielleicht sollte man hier jedoch auch der Politpresse Welpenschutz gewähren: schließlich muss auch ein über Jahrzehnte politisch eingelullte Journalist Politik 2.0 mit all ihren Begrifflichkeiten und Wertekonstrukten erst noch lernen.
Über diesen oder ähnlichen Gedanken ist möglicherweise manch einer der mitbestimmenden Piraten in der kalten Neumünsternacht eingeschlafen.
Am Sonntag um 9:20 Uhr setzte Jan Leutert den Parteitag mit passenden Einleitungsworten fort: “Ich mache das mit der Sonnenbrille, damit ihr nicht seht, dass ich noch schlafe.” Die Müdigkeit war jedoch nicht nur bei ihm schnell verflogen. Das Restprogramm war sportlich.
Wilm Schuhmacher, der nicht erneut für das Amt des Generalsekretärs kandidierte, sprach einleitend zu den Piraten:
“Wie schon angekündigt. Ich bin 27 Jahre und Basispirat aus dem schönen Thüringen. Und als Basispirat darf ich ja sagen: aus dem besten LV. Ich habe nochmal die einzigartige Möglichkeit bekommen, reden zu dürfen. Einige haben dies als meine Abschiedsrede bezeichnet.
In dieser abschließenden Rede möchte ich einige Gedanken äußern. Wir starten mit großen Erwartungen in diesen 2. Tag, um den Vorstand zu komplettieren. Wir sind schon auf dem halben Weg. Auch den 2. Teil werden wir mit Ruhe und Disziplin noch schaffen. Der Politische Geschäftsführer der vor allem für die politische Strahlkraft der Piraten verantwortlich sein wird, muss von uns an diesem Sonntag gewählt werden. Vieles wird in diesem neuen Vorstand einfacher, vieles auch schwerer. Erstmal gilt es, unsere Lösungen und unsere Wertvorstellungen in die Bevölkerung zu tragen. Wir haben es geschafft, eine längst überfällige Urheberrechtsdebatte anzustoßen und wir haben es geschafft, dass sich alle Parteien zu Bürgerrechten positionieren müssen. Wir haben es geschafft, dass wieder über Bürgerbeteiligung diskutiert wird, und auch in diesem Thema treiben wir die anderen Parteien vor uns her. Und ich denke, ihr gönnt mir diese kleine Freude. Wir haben es geschafft, dass die CDU über Onlinepartizipation ihrer Mitglieder redet. Wir haben es sogar geschafft, dass die FDP in NRW wieder mehr liberal sein will. Über alle Parteien hinaus mehr Partizipation – wer hätte das vor einem Jahr gedacht.
Aber dieser Vorstand wird es auch schwerer haben. Wir müssen als Partei jetzt liefern: parlamentarische Arbeit machen, Ausschüsse besetzen und dann schwierige Entscheidungen treffen. Aber ich bin guter Dinge, da ich Zweckoptimist bin. Alles wird gut. Wir haben Abgeordnete in Berlin, im Saarland, wir haben bald Abgeordnete in NRW. Auch das wird laufen, mit dieser wunderbaren Liste – und wir haben in einer Woche Wahlen in Schleswig-Holstein. Und es ist eine Wahl, die wegweisend für die ganze BRD sein kann. Klar ist sowieso, dass SH dringend Piraten braucht. Klar ist auch, dass Deutschland Piraten braucht. Stets also sollten wir uns besinnen auf das, wo wir herkommen und wer wir sind. Darauf, was wir gut können, was uns antreibt und was unser Menschenbild ist. Wir sind stark, weil unser Menschenbild richtig und demokratisch ist, und wir den Bürger nicht für einen Idioten halten.
Die Bürger geben uns ihr Vertrauen, weil wir ihnen vertrauen. Wir halten den Wähler eben nicht für bescheuert, und deswegen werden wir gewählt. Und natürlich ist es Wahltaktik, uns in die rechte Ecke zu stellen. Ich finde es geschmacklos, mit diesem ernsten Thema Wahlkampf zu machen.
Die Bürger sind es leid, und auch hier war das selbe Blabla zu hören. Dass Wahlergebnisse nur dazu benutzt werden. Und vielleicht noch an die Kameras, an die Mitbewerber: Vielleicht wäre es eine Möglichkeit, den Erfolg der Piraten nicht als Bedrohung für den eigenen Posten zu sehen, sondern als Chance für die deutschen Parteien. Eine Chance, die man gemeinsam nutzen kann, für die deutsche Demokratie, um die es in den vergangenen Jahren wirklich nicht gut stand.
Wie wäre es, mit dieser Bewegung zu arbeiten und zu verstehen, warum wir das können, was wir können?
Ich denke: Ich will über Inhalte, Themen, Sachthemen reden. Und nicht über geduldete Minderheitenregierungen. Man muss den Bürger und seine Bedürfnisse wieder in den Vordergrund stellen.…Wählen wir jetzt einen neuen Politischen Geschäftsführer und zeigen, wie Demokratie geht.” (leicht gekürzter Auszug aus der Rede)
So folgte auch die Wahl zum Politischen Geschäftsführer, die Johannes Ponader mit deutlicher Zustimmung von 74,44% gewinnen konnte. Als er auf der Bühne die Wahl annahm, fügte er kämpferisch hinzu: “Die Arbeit beginnt JETZT!”
Im direkten Anschluss folgte die Wahl der Beisitzer. Auch hier brachte bereits der erste Wahlgang das Ergebnis: Die neuen BuVo-Beisitzer heißen Klaus Peukert, Matthias Schrade und Julia Schramm.
In der Auszählpause sprach die Flaschenpost mit zwei Kandidaten, die am Vortag nicht in den neuen BuVo gewählt wurden, über ihre Eindrücke vom Parteitag. Veit Tameish (53, aus München), der ursprünglich für das Amt des stellvertretenden Bundesvorsitzenden kandidiert hatte, zeigte sich am Sonntag freudig erregt: “Es ist doch toll: ich bin ein 53 jähriger Ausländer, bin seit einem Jahr Pirat und hatte die Chance, für den Bundesvorstand einer deutschen Zwölfprozentpartei zu kandidieren. Wo bitte ist das sonst möglich? Ich werde auf jeden Fall weiter in der Basis arbeiten. Dann gibt es noch viele Chancen für mich – mit und ohne offizielles Amt.”
Ähnlich zufrieden zeigte sich Albert Barth aus dem fränkischen Haßfurt. Der 52 jährige Steuerberater mit eigener Kanzlei war bei der Wahl zum Schatzmeister mit einem ganz neuen Konzept angetreten und konnte dafür am Samstag Abend mit 118 Stimmen keine Mehrheit gewinnen. Dennoch zeigte er sich optimistisch: “Neue Konzepte brauchen Zeit. Kein Grund, diese jetzt zu verwerfen. Ich kann nur ein Angebot machen, dieses vertreten, wiederholen und zu gegebener Zeit zur Verfügung stehen. Ich habe auch in unserem Kreisverband viel Spaß und wenn ich sehe, wie wir hier gemeinsam zu Entscheidungen kommen, fahre ich mit einem guten Bauchgefühl nach Hause.”
Der Nachmittag begann mit einer etwas chaotischen, aber im Ergebnis letztlich eindeutigen Abstimmung: ein Antrag zur Erhöhung des Mitgliedsbeitrages von jetzt 36 Euro auf zukünftig 48 Euro wurde angenommen.
Ab 15 Uhr wurde es dann ziemlich unruhig in der Halle. Viele Piraten mussten etwas früher los, da ihnen noch eine weite Heimreise bevorstand. In dieser Atmosphäre fanden die Wahlen des Schiedsgerichtes und der Kassenprüfer statt.
Das neue Schiedsgericht wird gebildet von Joachim Bokor, Markus Gerstel, Markus Kompa, Claudia Schmidt und Benjamin Siggel.
Als Ersatzrichter wurden gewählt: Georg von Boroviczeny und Katrin Kirchert.
Zu Kassenprüfern wurden gewählt: Sabrina Augustin, Robert Franz, Christoph Löhr und Matthias Zehe. Um 18:30 Uhr – früher als geplant – war die Tagesordnung abgearbeitet. Und besser als mit den Schlussworten von Alios kann eine Nachlese nicht enden:
“Saugeil, was wir wieder gemacht haben. Tierisch gut. Wir können jetzt weiter machen, weil ich glaube, wir haben die beste Maschine, um sehr gute politische Lösungen zu produzieren. Jetzt können wir weitermachen, um geile Inhalte zu produzieren. Ich freue mich tierisch auf Bochum (Programmparteitag im November), ja, weiterrocken.”
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