Der 21. Juni 2012 war ein Tag, den viele Piraten im Kalender rot anstrichen. Denn es war der Tag, an dem Piraten Innenminister Friedrich zustimmten: die rassistische Hetze gegen Fußball-Nationalspieler Mesut Özil ist widerwärtig. Zustimmung bekam der Bajuware auch, weil er Fussballfans kritisiert, die bei der EM mit rassistischen Gesängen, Affengebrüll und Bananenattacken gegen farbige Spieler auffallen. Dies alles ist, um ein Wort des Ministers zu benutzen, hirnlos!
Gleich nach dieser Feststellung werden die Piraten ihren roten Stift aber wieder aus der Hand gelegt haben. Denn Hans-Peter Friedrich verlies im 2. Teil des Interviews selbst den Boden der Vernunft und versuchte die Vorratsdatenspeicherung als wirksames Bekämpfungsmittel gegen rassistsches Verhalten ins Gespräch zu bringen. Denn nicht nur im Stadion wurde gepöbelt, auch auf Twitter meinten einzelne Zeitgenossen ihren beschränkten Horizont beweisen zu müssen. Unter dem Account @PiratenOnline wurde beispielsweise “Özil ist garantiert kein Deutscher! Ein Stück Papier ändert nicht die Abstammung” verbreitet. Zwar gehören solche Sprüche zur Aufwärmphase nicht nur der CSU-Stammtische, aber anders als im Internet ist dort die Reichweite begrenzt.
Die Vorratsdatenspeicherung wird von konservativen Politikern als Wundermittel gegen alles Denkbare ins Gespräch gebracht. Wobei offensichtlich immer neue Anwendungsfälle entdeckt werden. Am 21. Juni also der Rassismus. Dabei sollte dem obersten Hüter der Verfassung bekannt sein, dass die Vorratsdatenspeicherung “nur” erfasst wer wann wie lange mit wem von wo aus telefoniert oder SMSe schreibt, wer wem E-Mails schreibt und welche E-Mail-Adressen dabei verwenden werden sowie welche IP-Adressen die deutschen Provider gerade an wen vergeben haben. Nicht einmal die politischen Hardliner forderten, dass auch gespeichert werden müsse was jeder Bundesbürger unter welchem Account im Internet, also vom Kommentar in der Flaschenpost bis zum Tweet auf Twitter, von sich gibt.
Ein anderes seit Monaten immer wieder vorgebrachtes Argument für die Vorratsdatenspeicherung ist an Verlogenheit nicht zu überbieten. Die Vorratsdatenspeicherung müsse laut Minister Friedrich endlich eingeführt um zu verhindern, dass Deutschland von der EU eben wegen der Nichtumsetzung der europäischen Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verklagt wird. Und in letzter Konsequenz Strafzahlungen an Brüssel zahlen müsse. Diese Argumentation ist deswegen verlogen, weil es gerade deutsche Politiker sind, die hier über Bande spielen und versuchen den Druck über EU-Institutionen ausüben zu lassen.
Dazu kommt, dass es ja nicht nur die Vorratsdatenspeicherung ist, wegen der Deutschland Strafzahlungen drohen. In Brüssel sind insgesamt 74 Verfahren gegen Deutschland wegen der Nichtumsetzung von EU-Vorgaben anhängig. Unter anderem wegen der Nichtumsetzung strengerer Gesetze gegen Abgeordnetenbestechung und dem sogenannte “VW-Gesetz”, das dem Ministerpräsidenten von Niedersachsen einen Sitz im Aufsichtsrat des Wolfsburger Autobauers gibt.
Mesut Özil hat ganz unabhängig von der fehlenden Vorratsdatenspeicherung Strafanzeige wegen Beleidigung gestellt. In der Twitterzentrale in den USA wird sich feststellen lassen zu wem der Account gehört. Denn laut deren AGB werden Logdateien 18 Monate lang aufgehoben. Ob ein Tweet der Art “Özil ist garantiert kein Deutscher! Ein Stück Papier ändert nicht die Abstammung” nach dem amerikanischen Verständnis unter die Meinungsfreiheit fällt, oder nach Friedrichs Lesart zu den widerlichsten Vergehen gehört, die nach richterlichem Beschluss mit Zugriff auf die Vorratsdaten aufgeklärt werden muss, interessiert nach dem Abpfiff des EM-Endspiels wahrscheinlich niemanden mehr.
Der Innenminister wird nach der EM neue Gründe erfinden warum das Abendland ohne Vorratsdatenspeicherung untergeht. Die Öffentlichkeit wird die mit Füßen getretenen Menschrechte in der Ukraine aus dem Bewusstsein ausblenden. Und Herr Özil wäre gut beraten seine Klage zurück zu ziehen – denn die Twitter-Äusserung ist geschmacklos und unter der Gürtellinie, doch auch nach deutschen Gesetzen wohl kaum als Beleidigung auszulegen. Auch nicht, wenn sie auf Twitter getätigt wurde.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.