Wer hätte gedacht, dass sich die Regierung so sehr beim Tricksen erwischen lässt, wie dies bei der zweiten und dritten Beratung des neuen Meldegesetzes geschehen ist? Da sitzen keine 30 Abgeordnete im Bundestag und machen Politik. Mit ihrer Zustimmung zum Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Meldewesens schaffen sie in nicht einmal einer Minute die Gültigkeit des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ab. Die Mehrheit der Bundesbürger war von der EM abgelenkt, selbst die Mehrheit der Parlamentarier saß bereits vor dem Fernsehen. “Deutschland gegen Italien” versprach freie Bahn für schmutzige Gesetze. Da saßen sie also, einige wenige von denen, die 2009 den Amtseid leisteten:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Sie stimmten für ein Gesetz, das die Adressdaten der Bürger den Adresshändlern ausliefert, und gleichzeitig den möglichen Widerspruch gegen die Weitergabe der eigenen Daten faktisch abschafft.
Die Anwesenden erfahren, dass der Innenausschuss die Annahme empfiehlt und Reden zu Protokoll genommen werden. Die Abstimmung ging dann ganz schnell. Bei der 2. Lesung gehen Hände nach oben, bei der 3. Lesung stehen einige auf. Die Sache geht so routiniert vonstatten, dass angenommen werden muss, dass nur ein kleiner Teil der wenigen Anwesenden überhaupt wusste über was genau eigentlich abgestimmt wird. Zumal die ersten Entwürfe tatsächlich eine “Fortentwicklung des Meldewesens” versprachen. Erst durch spätere Streichungen wurde das Vorhaben zu einem Entmündigungsgesetz.
Vielleicht wäre keinem aufgefallen welches Geschenk die Regierung gerade den Adresshändlern machte, wenn die deutsche Mannschaft am nächsten Tag nicht den Rückflug angetreten hätte. Jetzt aber gab es keine Ablenkung durch Fußball mehr, die Journalisten konnten wieder auf Leserschaft hoffen. So berichtete DIE ZEIT am 29. Juni zum ersten Mal über das Gesetzesvorhaben – ohne seine Brisanz ganz zu erfassen. Die Flaschenpost wusste am 01. Juli schon vom nutzlosen Opt-Out-Verfahren zu berichten. DIE WELT fand das Video vom Parlamentsfernsehen und veröffentlichte den Artikel Bundestag verkauft Bürgerrechte in nur 57 Sekunden, der sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Die Lawine der Empörung wurde schnell sehr mächtig und überrollte die Politik.
Zuerst ruderten die Länder zurück, dann meldeten Kommunen Bedenken an. Die FDP, die im Juni mit dem Opt-Out-Verfahren noch “lästige Einwilligungsanfragen” verhindern wollte, spricht nun wieder von Datenschutz. Einzig der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses Wolfgang Bosbach (CDU) warnt die Bundesländer davor, das neue Meldegesetz abzulehnen. Ihm zur Seite springt Dr. Hans-Peter Uhl (CSU). Doch scheint es zur Zeit, dass es zumindest im Vordergrund keinen anderen Politiker von Rang und Namen gibt, der sich an diesem Gesetz noch die Finger verbrennen will.
Nur aus der Anonymität des Internets heraus verspottete @cducsu – der offizielle Twitteraccount der CDU/CSU-Fraktion – SPD und Grüne. Wer so hämisch in aller Öffentlichkeit über die bei der Abstimmung unterlegene Opposition wettert, hat noch ganz andere Sprüche für die entmündigte Einwohnerschaft Deutschlands übrig. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie über uns, die mit Fußball eingelullten, reden. Das neue Meldegesetz steht auf der Kippe. Den Todesstoß könnte ihm eine Initiative des FoeBuD (Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs) machen. Sie bitten in einer Mitteilung um Unterstützung:
Liebe Bürgerrechts-Engagierte,
ein Thema bewegt die Gemüter gerade sehr: Das neue Bundesmeldegesetz.
In den letzten Tagen erreichten uns viele Zuschriften, dass der FoeBuD
dagegen etwas unternehmen soll. Das hat uns keine Ruhe gelassen.
Zusammen mit der Kampagnenplattform campact haben wir eine Aktion
gestartet, um das neue Meldegesetz zu stoppen.Es ist noch nicht zu spät! Denn das Gesetz muss noch durch den
Bundesrat; die Bundesländer müssen zustimmen. Die nächste Sitzung des
Bundesrates findet am 21. September statt.Wir appellieren deshalb an die Ministerpräsidenten aller Bundesländer,
im Bundesrat gegen das neue Meldegesetz – und damit gegen den
Ausverkauf der Meldedaten an kommerzielle Adresshändler – zu stimmen.
Wir wollen mindestens 100.000 Mitzeichner für den Appell gewinnen. Und
wir werden mit Aktionen dafür sorgen, dass unsere Stimmen gehört
werden.Unterzeichnen Sie unseren Appell an die Ministerpräsidenten:
http://www.campact.de/melderecht/home
Wir bitten unsere Leser, sich an dieser Aktion zu beteiligen. Fegen wir dieses Gesetz gemeinsam weg! Zeigen wir der Regierung, was ein Shitstorm ist. Machen wir ihnen klar, dass sie unter Beobachtung stehen. Während der WM, während der Olympischen Spiele, während des Skispringens und selbst wenn Sommerdürre oder Winterüberschwemmung die Nachrichtenlage beherrschen: Wir haben euch im Blick!