Ein gutes Ansinnen schien der Verordnung über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der Richtlinie über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und –diensten zugrunde zu liegen, denkt man bei diesen Worten doch an ein offenes und freies Netz sowie Netzneutralität. Schon lange betonen Experten immer wieder, dass eine gesetzliche Verankerung des Best-Effort-Prinzips und der Netzneutralität notwendig ist. Eine entsprechende EU-Verordnung (PDF) schien dabei wie ein Schritt in die richtige Richtung, um die Mitgliedsstaaten zur Umsetzung zu veranlassen.
Doch auch wenn das EU-Parlament in der Verordnung vom 27. Oktober 2015 vom offenen Internet und von Netzneutralität spricht, steckt der Teufel im Detail. In vielen Teilen liest sich das Dokument zwar genauso, wie viele Befürworter der Netzneutralität es sich immer gewünscht haben. So heißt es unter Punkt (8) zum Beipspiel:
„Bei der Bereitstellung der Internetzugangsdienste sollten Anbieter dieser Dienste den gesamten Datenverkehr ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, ungeachtet des Senders, des Empfängers, des Inhalts, der Anwendung, des Dienstes oder des Endgeräts, gleich behandeln.“
Das könnte Wort für Wort beinahe als Definition eines Best-Effort Netzes auf Wikipedia eintragen werden. Liest man allerdings ab Punkt (9) weiter, wird man von der Verordnung umfangreich darüber aufgeklärt, warum es eben doch keine wirkliche Netzneutralität sein kann. Durch „Verkehrsmanagement“ bleibt es dabei den Anbietern möglich, den Datenstrom zum User in verschiedenen Formen zu manipulieren. Es gibt mehrere Ausnahmen, die hierfür zum Anlass gegeben werden können. Zum Beispiel eine hohe Netzauslastung oder Sicherheit vor Cyberangriffen sind dabei wohl ausreichende Gründe für eine „objektive“ Verkehrsmanagementmaßnahme.
Zwar sollten die von den Internetanbietern angewandten Maßnahmen „nicht auf kommerziellen Erwägungen beruhen“ (Punkt 9), doch die schwammigen Formulierungen über die vielen Ausnahmen und Besonderheiten ziehen sich bis Punkt (19) durch und lassen viele Fragen und Unsicherheiten offen. Das ist besonders für großen Telekommunikations- und Dienstanbieter in der EU von Vorteil. Es ist ihnen weiterhin möglich, ein Zweiklassen-Netz zu betreiben, da sie durch die Verordnung keine Repressalien zu befürchten haben. Durch die nicht eindeutigen Formulierungen und die vielen Ausnahmen besteht die Möglichkeit für sie, Rechtfertigungen zu finden, warum nun ein bestimmter Dienst eben doch schneller durchgeleitet werden muss als ein anderer.
Dadurch geschädigt werden können vor Allem kleine Unternehmen, Start-Ups und Endverbraucher. Werden bestimmte Dienste vom Anbieter – aus welchen Gründen auch immer – bevorzugt behandelt, so entsteht natürlich ein wettbewerblicher Nachteil für alle anderen Dienste. Würde sich zum Beispiel ein Telekommunikationsanbieter dazu entschließen, einen bestimmten Musik-Streaming-Dienst nicht auf Datenvolumen von Mobiltarifen anzurechnen, so würden die Konkurrenten dieses Dienstes eindeutig benachteiligt. Denn dadurch entsteht natürlich ein Wettbewerbsvorteil, den sich der Anbieter selbst schön zurechtlegen kann. Schließlich sind knappe und teure Datenvolumen bei Mobiltarifen heute Standard, und ein Großteil der Endnutzer würde fast gezwungener Maßen den Dienst verwenden, der kein Volumen verbraucht. Das schadet dem Wettbewerb ungemein. Und das schadet wiederum dem Endnutzer. Einzig die Anbieter und die großen „Player“ am Markt ziehen daraus einen Vorteil; insbesondere aus der unklaren Lage, da über die Zweifelsfälle wohl letztendlich Gerichte entscheiden werden.
Auch Geschäftsmodelle wie die „Drossel“ der Telekom werden durch die EU-Verordnung zur Netzneutralität nicht verhindert. Im Vordergrund steht auch hier ein kommerzielles Interesse, schließlich zielte die Telekom damit auf Vielverbraucher ab, die überteuerte Preise für ihre Nutzung zahlen sollten. Doch Begründungen anderer Art wurden bereits vorgeschoben – 3 Prozent aller Nutzer würden 30 Prozent des anfallenden Datenvolumens verbrauchen. Und das hohe Datenvolumen drohe angeblich, die Backbones zu überlasten. Und schon wird die Drossel zu einer „Verkehrsmanagementmaßnahme“, die „objektiv“ gesehen aus dem technischen Grund erfolgt, eine Überlastung der Netze zu verhindern. So einfach ist das.
In der EU-Verordnung geht es zusätzlich um die immer wieder kritisierten Roaminggebühren für Mobilfunk-Nutzer innerhalb der EU. Viele hofften auch hier, dass die EU einheitliche Regeln festlegen würde, um maßlos übertriebene Kosten bei Nutzung von Mobilfunk und Internet im EU-Ausland einzuschränken. Das soll zuerst auch durch eine Deckelung von Zusatzkosten und schließlich durch die komplette Abschaffung dieser geschehen. Doch auch hier lässt die EU durch schwammige Formulierungen Hintertüren offen: So spricht Punkt (22) von einer „Fair User Policy“, die vorschreibt, dass der Endnutzer Roamingdienste nur in einem „angemessenen“ Zweck verwenden darf. Was ein „angemessener“ Zweck ist, bleibt dabei größtenteils der Fantasie überlassen. Bei Punkt (23) möchte man eigentlich nicht mehr weiterlesen, besonders, da dieser mit den Worten „Bei Vorliegen bestimmter außergewöhnlicher Umstände sollte ein Roaminganbieter…“ beginnt. Und wer jetzt denkt, dass es hier um „außergewöhnliche Umstände“ geht, in denen der Roaminganbieter eben doch weitere Zusatzkosten verlangen kann, hat leider recht.
Im Fazit bringt die Verordnung damit ernüchternd schlechte Aussichten für Netzneutralität und gegen erhöhte Roaminggebühren. Auf den ersten Blick erscheint es, als würde die EU sich mit dieser Verordnung für ein offenes Netz und für die Endverbraucher einsetzen. Doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sich Hintertüren und Lücken, die durch Ausnahmen und schwammige Formulierungen ihren Weg in das Dokument gefunden haben. Dabei setzte sich die EU doch vor gerade mal einem Jahr für klare Regelungen bezüglich dieser Themen ein. Überraschend ist es jedoch nicht – schließlich gibt es genug Akteure, die ein weniger großes Interesse an klaren Regelungen haben und auch die Möglichkeiten besitzen, diese zu verhindern.