Ein Gastartikel von Jürgen.
Nach der Wiedervereinigung waren vor allem die neuen Bundesländern von einem
erheblichen Strukturwandel betroffen. So verloren z.B. die ‚Lutherstädte‘
Wittenberg und Eisenach ca. 10% bzw. 14% ihrer Einwohner. Während Eisenach
mittlerweile wieder etwas wächst (nach Wikipedia ca. +900 seit 2013), sind
heute viele Städte im Westen z.B. in Nordrhein-Westfalen betroffen. Geradezu
im Brennpunkt ist jedoch Pirmasens in Rheinland-Pfalz – wie kürzlich in
Spiegel TV.
Pirmasens hat 13% Erwerbslose und ist nicht nur weit vorn in der Verschuldung pro Kopf, sie ist insbesondere weit hinten im Bezug auf die Lebenserwartung. Nirgendwo in Deutschland ist diese niedriger als dort.
Dabei brachten früher die Schuhindustrie und US-Militär nicht nur
ausreichend Arbeitsplätze, sondern Pirmasens hatte sogar die höchste Dichte
an Millionären in Deutschland. Aber die Schuhindustrie ist weitgehend
abgewandert und das Militär abgezogen. Es bleibt eine Lage am
Rande von Deutschland, jenseits der Speckgürtel, ohne Fernverkehrszüge und
mäßiger Autobahnanbindung. Die A8 sollte zwar eine Achse vom Westen über
Saarbrücken, Stuttgart und München bis in den Südosten bilden, aber das
Stück durch die Westpfalz bei Pirmasens wurde aufgegeben. So bleibt den
ehemaligen „Schlabbefliggern“ nur die B10, um ins ca. 80 km entfernte
Karlsruhe zu pendeln. Der vierspurige Ausbau der B10 ist seit Jahren
umstritten, für die Pirmasenser ist er Hoffnung,
für die Südpfalz Lärm, für die Naturschutzverbände Umweltzerstörung und für
die übrigen in Folge der aufwendigen Streckenführung teuer.
So weit die Situation, was rückt Pirmasens noch in den Fokus? Die
Pirmasenser Erklärung.
Hier haben Kämmerer aus durch vom Strukturwandel betroffenen Städten und
Gemeinden einen Hilferuf an die Bundespolitik gerichtet.
Was hat das jetzt mit einem Bedingungslosem Grundeinkommen (BGE) zu tun?
Schließlich bringt ein BGE weder die Schuhindustrie noch das Militär zurück
nach Pirmasens und die verkehrstechnisch eher ungünstige Lage bleibt auch.
Dennoch gilt hier wie in Bezug auf den US rust-belt: „it keeps the economy
going“ (aus ECO Magazin).
Schließlich stabilisiert es die Nachfrage und damit die Wirtschaft an sich.
Allerdings in Deutschland wirkt schon ALG II, Sozialhilfe usw. in ähnlicher
Weise. Wozu dann BGE?
Das Problem in Deutschland ist, dass einen Großteil solcher
Transferleistungen die Kommunen selbst zahlen müssen. So brechen im
Strukturwandel gleichzeitig die Einnahmen ein und die Ausgaben steigen.
Dieser Bezug findet sich auch in der Pirmasenser Erklärung. Weshalb dort
eine stärkere Mitfinanzierung durch Bund/Land bei sozialen Aufgaben
gefordert wird. Da es sich hier um Pflichtleistungen handelt, müssen
betroffene Städte dies teilweise über Kassenkredite finanzieren. Der Vorteil
beim BGE ist, dass dieses grundsätzlich bundesweit organisiert wäre. So
würde es automatisch zu einem inneren Finanzausgleich zwischen den Regionen
kommen. Die Kommunen hätten zwar noch immer die Einnahmeverluste, aber wären
bei den Ausgaben entlastet. So würden diese Spielräume zur Gestaltung des
Wandels bekommen.
Ein weiterer Vorteil, den gerade das BGE bietet, ist die Unterstützung von
bestehenden Kleinunternehmern und Gründern. Wenn man heutzutage als
Selbstständiger z.B. 500 Euro/Monat Gewinn vor Steuern macht, dann reicht
das nicht aus, um sich langfristig über Wasser zu halten. Ein Bezug von ALG
II usw. gibt es erst nach Geschäftsaufgabe und nachdem die eigenen Rücklagen
aufgebraucht sind. Ein Grundeinkommen gibt es immer, so dass selbst bei
niedriger BGE-Höhe ein renditeschwaches Geschäft ausreicht, um der Armut zu
entgehen. Für Gründer senkt es den notwendigen Kapitalbedarf. So kann ein
BGE Kleinunternehmern den Start und das Überwinden von Flauten erheblich
erleichtern.
Insgesamt könnte so das BGE wirklich einen Beitrag leisten, um von
Strukturwandel betroffenen Regionen zu helfen. Vielleicht wäre ja sogar
Pirmasens eine interessante Testregion für Grundeinkommens-Experimente wie
in Finnland oder den Niederlanden.
ALG II bzw. die Grundsicherung sichern das Existenzminimum, nichts weiter. Bei ALG II kritisieren die Sozialverbände regelmäßig, dass z. B. die Energie- und Telekommunikationskosten zu niedrig angesetzt sind und eine gesellschaftliche Teilhabe im Grund nicht möglich ist. Stabilisierung der Nachfrage und der Wirtschaft? Das geht ja nicht einmal mit Tariflöhnen, die nicht die Inflationsrate, steigende Sozialabgaben, Steuerprogression etc. ausgleichen. Schon einmal etwas davon gehört, dass sich die Reallöhne in Deutschland heute auf dem Niveau der 1990er Jahre bewegen (*)? Und da sollen ausgerechnet die sozial und und finanziell am schlechtesten Gestellten die Stabilisierung von Nachfrage und Wirtschaft hinbringen? Wo hat man den einen solchen Unsinn schon einmal gehört? Sozialpolitisches Engagement ist ja gut, aber eben bitte nicht mit Sahne, sondern mit Kompetenz.
(*) siehe z. B. https://www.google.de/imgres?imgurl=https%3A%2F%2Fupload.wikimedia.org%2Fwikipedia%2Fcommons%2Fthumb%2Fc%2Fc4%2FEntwicklung_Realohn_Nominallohn_Verbraucherpreisindex_D.svg%2F1200px-Entwicklung_Realohn_Nominallohn_Verbraucherpreisindex_D.svg.png&imgrefurl=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2Fwiki%2FReallohn&docid=Sio9yOColj4AdM&tbnid=rl4ZHXmFC-jELM%3A&vet=10ahUKEwii5pi2lqHTAhUJxRQKHXgoBEYQMwhTKCQwJA..i&w=1200&h=683&bih=751&biw=1600&q=reall%C3%B6hne%20deutschland%20seit%201950&ved=0ahUKEwii5pi2lqHTAhUJxRQKHXgoBEYQMwhTKCQwJA&iact=mrc&uact=8
Bitte keine Experimente mit Menschen!
BGE ist keine Sozialleistung, es kann aber Sozialleistungen teilweise ersetzen.
Für Nachfragestabilisierung ist BGE wesentlich besser geeignet als Tarifabschlüsse (weil es eben alle bekommen) oder HartzIV (weil es nur zu einem kleinen Teil bar verfügbar ist). Selbst der (ebenfalls staatlich verordnete) Mindestlohn hat eine halbwegs vergleichbare Wirkung (aber eben nicht für alle).
Nein, BGE ist keine „Bundesveranstaltung“, denn das wäre absolut Planwirtschaft und nicht demokratisch. BGE kann jede Ebene (EU, Bund, Land,Kommune (und zwar gleichzeitig!) erwirtschaften, beschließen, zahlen. So geht Demokratie.
1) Natürlich ersetzt ein BGE keinen Tariflohn. Dennoch, selbst ein ALG II stabilisiert die Nachfrage (wenn auch auf ziemlich niedrigem Niveau). Das ist ein Vorteil eines „Sozialstaats“ im Gegensatz zu den völlig (neo)liberalen Konzepten. Der „Zusatznutzen“ vom BGE liegt vor allem im vorletzten Absatz, denn es verschafft Kleinunternehmern, Gründern usw. mehr Luft und bessert auch (zu) kleine Renten auf, wodurch die betroffenen klar über die Armutsgrenze kommen.
Ein Problem des z.Z. vorherrschenden neoliberalen Paradigma ist es ja gerade durch Lohnsenkungen/Kürzungen bei den „sozial und und finanziell am schlechtesten Gestellten“ die ‚Wirtschaft in Schwung bringen zu wollen‘. Es wird im Rahmen des ’nachfrageorientierten Paradigmas‘ so die Nachfrage destabilisiert, das BGE zieht hier eine Grenze.
2) Die beiden Hauptgruppen der BGE-Modelle basieren auf negativer Einkommensteuer oder (negativer) Konsumsteuer. Egal welches Modell zum Tragen kommt, das BGE übernimmt im Vergleich zu heute eine steuertechnische Rolle: nämlich das Prinzip der ‚leistungsgemäßen Besteuerung‘. Heute ist dies in der Einkommensteuer (durch Grundfreibetrag und Progression) realisiert. Im BGE-System kann sowohl EkSt+BGE als auch MwSt+BGE dieses Prinzip realisieren. Aber keine der beiden Steuern ist rein auf kommunaler Ebene umsetzbar. Geht man von einer Massgabe eines einheitlichenSteuersystems aus (Stichwort Steuergerechtigkeit), dann muss das bundesweit einheitlich sein.
Ja das BGE ist keine Sozialleistung, aber es übernimmt neben der Sicherung der Existenz der gesellschaftlichen Teilhabe (Transferleistungs-Säule also ALG II Regelsatz usw.) auch das Prinzip leistungsgemäße Besteuerung (Steuersäule also Grundfreibetrag usw). Es gilt ‚jeder bekommt BGE, jeder zahlt Steuern‘. Dieses Prinzip ist zentral für die nachhaltige Finanzierung des BGE und macht einen -wenigstens- bundesweiten Ausgleich nahezu unvermeidlich. Gleichzeitig sorgt dieser Aspekt des BGE dafür, dass die regionalen Experimente (Dauphin/Kanada, Namibia oder jetzt Finnland) eine BGE Finanzierung nicht testen können. Der Fokus der Experimente liegt immer auf der Frage: „wirkt ein BGE aktivierend oder legen sich alle in die Hängematte“ Da diese Befürchtung eines der 3 Gegenargumente der BGE-Gegner ist, sind diese Experimente aus BGE Sicht nützlich (die Auswertung von Dauphin zeigt klar in Richtung aktivierend)
Solange Empfänger von ALG II nicht verhungern, verdursten, auf den Straßen erfrieren oder zerlumpt herumlaufen, kann man natürlich sagen, „ein ALG II stabilisiert die Nachfrage (wenn auch auf ziemlich niedrigem Niveau).“
Diese Antwort von Jürgen WER EIGENTLICH? zeigt zweierlei. Zum einen die soziale Blindheit der PIRATEN. die leider nicht ganz neu ist, zum zweiten, dass es offenbar einfacher ist, auf emotionale denn auf fundierte Kommentare zu reagieren.
Natürlich darf man mit Menschen nicht experimentieren. Allerdings wäre das BGE ja wohl kein Experiment am Menschen, sondern ein gesellschaftliches Experiment, wobei noch zu hinterfragen ist, ob das ein Experiment im wissenschaftlichen Sinne wäre.
Man kann durch geeignete Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik den Wohlstand einer Gesellschaft fördern – dazu gehört auch sozialer Ausgleich, ohne den es keinen Wohlstand, sondern nur den Reichtum einiger weniger, muss man ja wohl sagen, gibt –, man kann ihr aber auch die Existenzgrundlage rauben. Für das letztere ist das heutige Venezuela ein gutes Beispiel des Schlechten. Dass sich verschiedene BGE-Modelle rechnen, also für machbar gehalten werden – zumindest von ihren Befürwortern –, heißt, dass das BGE eine Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik sein könnte, die irgendwo in der Mitte der Extrema liegt. Es geht eben hier nicht um kleinteiliges Steuergewurstel („EkSt+BGE“ versus „MwSt+BGE“ oder what-have-you). Was die Gegner, wenn auch möglicherweise gar nicht voll bewusst, sehen, ist, dass das BGE einen soziokulturellen oder sozioethischen und sozioökonomischen Paradigmenwechsel ein Stück weg von der Bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Wenn dieser nicht gelingt, hat das BGE eine große Chance, eine Gesellschaft zu ruinieren. Ob die deutsche Gesellschaft (oder westliche Gesellschaften überhaupt) bereit und in der Lage ist, diesen Wechsel zu vollziehen, darf man ganz nüchtern ante-postfaktisch bezweifeln. Man kann mit Sicherheit aber sagen, keine politische Klasse im Westen will heute so etwas. Vermutlich die in Russland und China auch nicht, denn das sind auch bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften.
Bevor man also Details der Ausprägung eines BGE diskutiert, muss vordringlich dieser Paradigmenwechsel zum Thema gemacht werden, er muss vorbereitet werden, damit die Menschen ihn auch vollziehen können. Und zwar nicht nur die, die sich für Steuern interessieren, nämlich Politiker, die sie haben wollen, denn Geld auszugehen ist ihre Macht, und die Unternehmer, die sie nicht zahlen wollen und kaum zu durchschauende Steuervermeidungsmodelle erdenken und praktizieren, und das paradoxerweise mit Hilfe auch von Politikern – man denke beispielsweise an den legendären Jean-Claude Juncker.
Das BGE ist also auch nicht einfach eine (mögliche) Antwort auf einen Strukturwandel – eine solche Antwort suchen, zumindest vorgeblich, die etablierten Politikmacher ja auch. Eine Gesellschaft mit BGE ist eine vollkommen andere als eine Gesellschaft ohne BGE. Das muss man sich klar machen, bevor man für das BGE politisch werben kann.
Und dann gibt es noch eine spannende Frage: Wie würde z.B. ein BGE-Deutschland in einer kapitalistischen Weltwirtschaft und Weltgesellschaft funktionieren und bestehen, die in ihren verschiedenen Teilen von verschiedenen Strukturwandelproblemen betroffen und im Umbruch begriffen ist?
Keine Angst, ich erwarte hier keine Antwort, ich erwarte aber, wenn man „Strukturwandel“ mit „BGE“ verbindet, zumindest diese Frage. Aber vor allem erwarte ich, dass man sich klar macht, was das BGE überhaupt bedeutet, wie eine BGE-basierte Gesellschaft funktioniert, anstatt Klein-Klein zu diskutieren.