Eine Kolumne von Ullrich Slusarczyk
Nimmt man das bayrische Staatsministerium, dann ist Inklusion das:
Inklusion heißt, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben nicht mehr an vorhandene Strukturen anpassen müssen. Vielmehr ist die Gesellschaft aufgerufen, Strukturen zu schaffen, die es jedem Menschen – auch den Menschen mit Behinderung – ermöglichen, von Anfang an ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein.
Das klingt toll, ist aber eine Lüge.
Ich bin selbst betroffen, da ich 100 % GdB (Grad der Behinderung) plus dem Merkzeichen G für gehbehindert habe. Und alleine das Erlangen des Schwerbehindertenausweises hat fast ein Dreivierteljahr gedauert. Nach einem Widerspruch stimmten zwar die Prozente und das Merkzeichen, die medizinische Begründung hingegen war völliger Blödsinn. Und so wurde der Ausweis nur auf 5 Jahre ausgestellt und nicht unbefristet. Allerdings war ich durch Chemotherapie und Bestrahlung noch so angeschlagen, dass ich einfach keine Kraft mehr hatte für eine weitere Auseinandersetzung. Zusätzlich hatte das Landesamt für Soziales, Jugend und Familie mich bei der Antragsstellung gefragt, ob ich eine/einen Vorsorgebevollmächtigten hätte.
Ordnungsgemäß habe ich dies bestätigt und die entsprechenden Daten eingetragen. Was dann passiert ist, habe ich so nicht erwartet. Denn es passierte nichts. Bis eines Tages meine Bevollmächtigte völlig aufgelöst sich bei mir meldete und sagte, sie wäre vom Landesamt aufgefordert worden, Dinge zu tun. Das hat letztendlich dazu geführt, dass sie nicht mehr bevollmächtigt sein wollte, und hat es zumindest in meinem Freundeskreis doch sehr schwer gemacht, noch einmal jemanden dafür zu finden. Darüber hinaus war es eine Datenschutzverletzung. Von dem Vertrauensbruch wollen wir lieber gar nicht erst reden. Denn, ich war, wie man so schön sagt, voll geschäftsfähig. Wie eine Erkrankung an Lungenkrebs dazu führen kann, dass man nicht mehr geschäftsfähig ist, hat das Landesamt bis heute weder erklärt noch haben sie sich dafür entschuldigt. Alleine dieser Vorgang hat das Ganze um sicher 2 Monate verlängert.
Jetzt, 4 Jahre später, muss ich gegen den Bescheid nachträglich vorgehen. Denn ich werde jetzt zu Dingen gezwungen, die medizinischer Blödsinn sind, um den Ausweis überhaupt behalten zu dürfen. Nun bin ich kein Jurist, kenne mich damit nicht aus. Und so wie mir wird es wohl den meisten Menschen gehen.
Glücklicherweise kenne ich aber einen sehr guten Juristen, der mir behilflich war, sodass ich jetzt eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichen werde und nach $44 (SGB X) eine nachträgliche Änderung beantrage. Alleine hätte ich das aber nicht gekonnt. Aber sehen wir uns doch mal an, wie Inklusion in Deutschland so aussieht.
Ich habe darüber ja schon zwei Interviews geführt:
https://die-flaschenpost.de/2022/03/27/interview-peggys-gedankenwerkstatt/
https://die-flaschenpost.de/2022/05/18/interview-nixklusion/
Aber um wirklich über Inklusion reden zu können, braucht man Zahlen.
Zahlen und Fakten
200.000 jährliche erstmalige Schlaganfälle [1]
70.000 wiederholte Schlaganfälle [1]
40 % aller betroffenen sind danach chronisch behindert [1]
20 % davon waren bereits vorher behindert [1]
2020 gab es 760.492 meldepflichtige Arbeitsunfälle [2]
Ebenfalls 2020 gab es 152.823 Wegeunfälle [2]
Insgesamt ergeben sich daraus:
913.315 Arbeits- und Wegeunfälle [2]
Daraus resultierten:
17.640 Unfallrenten [2]
2020 gab es rund 2,25 Millionen Verkehrsunfälle in Deutschland [3]
Pandemiebedingt ist die Zahl gesunken.
Bei 1,6 % der Unfallverletzten wurde danach eine amtlich anerkannte Behinderung beantragt. [4]
Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis hat man erst ab einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 oder mehr. [5]
9,5 % (7,9 Millionen) aller Deutschen waren 2019 schwerbehindert. Dieser Anteil steigt jährlich. [6]
RollstuhlfahrerInnen gibt es zwischen 1,4 Millionen bis 1,56 Millionen. Leider werden selbige offenbar nicht wirklich erfasst. Und die letzte Zahl ist von 2013.
Nahezu 89 % der Behinderungen werden durch Krankheit verursacht.
Nur 3 % der Behinderungen sind angeboren oder traten im ersten Lebensjahr auf.
Entgelt WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen)
Wer in einer WfbM arbeitet, bekommt ein Entgelt, denn er gilt nicht als Arbeitnehmer, hat daher auch keinen Anspruch auf Mindestlohn.
Grundentgelt seit 2022: 109 € monatlich.
Steigerungsbetrag: Der Steigerungsbetrag ist individuell.
Arbeitsföderungsgeld: 52 € monatlich.
Durchschnittsentgelt Stand 2019: 220,28 € pro Monat
Inklusion in Deutschland an zwei Beispielen.
Deutsche Bahn
Wir schaffen es, Hochgeschwindigkeitszüge zu bauen, die mehr als 300 km/h fahren können. Sind aber nicht in der Lage, die gleichen Züge so zu bauen, dass Rollstuhlfahrer sie problemlos nutzen können. Stattdessen bauen wir Rampen dafür, die technisch so kompliziert sind, dass sie zum einen dauernd kaputt sind und außerdem Fachpersonal benötigen zur Bedienung.
Davon abgesehen, sollte man auch keine schweren Koffer mitnehmen. Denn die muss man erst mal in den Zug rein wuchten. Wie oft haben ältere Leute damit Probleme.
Dazu kommen Aufzüge, die ständig kaputt sind. Bahnsteigkanten, die so weit vom Zug weg sind, dass Rollatoren mit ihren Rädern hängen bleiben und man ständig darauf hingewiesen wird. Wenn man sich den steigenden Altersdurchschnitt in Deutschland ansieht, ist das alles völlig unverständlich. Dabei wirbt die DB mit Inklusion!
Das gilt aber offenbar nicht für die Fahrgäste. Hier gilt der alte Grundsatz: Servicewüste Deutschland.
WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen)
Die Menschen, die in einer WfbM arbeiten, erwirtschaften ca. 8 Milliarden Umsatz. 5 Milliarden davon werden für Personal und Sachkosten wieder aufgewendet. Von dem übriggebliebenen Gewinn bekommen die Werkstattbeschäftigten gesetzlich geregelt mindestens 70 Prozent, daraus entsteht der aktuelle Lohn. Da Werkstätten als Non-Profit-Unternehmen organisiert sind, wird der Rest, ebenfalls gesetzlich vorgegeben, als kurzfristige Rücklage für die Beschäftigten beiseitegelegt oder in Modernisierungen investiert. Tatsächlich verdienen die Menschen in einer WfbM 11 € am Tag im Bundesdurchschnitt bei einer 40 Std. Woche.
Kunden der Werkstätten sind dabei z.B. Daimler-Benz.
Das verwundert nicht, denn die Werkstätten produzieren sogar günstiger als die Konkurrenz aus Billiglohnländern. Unter dem Hashtag #IhrBeutetUnsAus findet man auf Twitter Unmengen an Beispielen [7]. Viele davon finde ich mehr als erschreckend.
So z.B. Beispiele, die von Demeter handeln [8]. Das ist ein Verband, der biologisch-dynamisch arbeitet, so die Selbstaussage. Tatsächlich ist der Verband anthroposophisch nach Rudolf Steiner und vergräbt z.B. Kuhhörner, um eine bessere Ernte zu bekommen.
Fazit
Der Artikel könnte problemlos 3 – 4-mal so lang sein. Alleine die Beispiele würden locker ein ganzes Buch füllen. Und die UN-Behindertenrechtskonvention, der Deutschland 2009 beigetreten ist, habe ich noch gar nicht angesprochen. Das werde ich in einem gesonderten Artikel tun.
Nicht behandelt habe ich auch das gesamte Feld der psychischen Erkrankungen, für die ebenfalls ein extra Artikel vorgesehen ist.
Inklusion, das ist in Deutschland eine Lüge. Politiker verwenden das Wort, um Wähler zu bekommen. Zu zeigen, was man alles tut. Doch die gelebte Wirklichkeit, sie ist eine völlig andere. Interessant dabei ist: Nahezu 89 % aller Behinderungen werden durch Krankheiten verursacht, sind also nicht angeboren. Und das heißt, es kann jeden treffen!
Für uns als Piratenpartei kann das nur heißen, das zu ändern. Zu zeigen, dass wir Inklusion nicht nur als ein Wort sehen, ein Wahlversprechen, das einzuhalten wir nicht verpflichtet sind. Sondern das wir dafür kämpfen!
Ullrich Slusarczyk
[1] https://schlaganfallbegleitung.de/wissen/schlaganfall-fakten
[2] https://www.dguv.de/de/zahlen-fakten/au-wu-geschehen/index.jsp
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/73424/umfrage/unfaelle-im-strassenverkehr/
[5] https://www.vdk.de/deutschland/pages/themen/artikel/9196/der_schwerbehindertenausweis
[6] https://www.rehadat-statistik.de/statistiken/behinderung/schwerbehindertenstatistik/
[7] https://twitter.com/JacyLu76/status/1536507964340723712
[8] https://twitter.com/Ruppi_Struppi/status/1536405867070881792
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.