
Erdowahn | CC BY Piratenpartei Deutschland

Gestern, am 22. April 2016, fand die Demo „Keine Macht dem Erdowahn – Freiheit statt Erdogan“ vor der türkischen Botschaft in Berlin statt. Anwesend war auch Bruno Gert Kramm, Vorsitzender der PIRATEN in Berlin und Spitzenkandidat für die kommende Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin.
Diese Demonstration richtet sich gegen den Versuch Erdogans, gegen den Satiriker Jan Böhmermann wegen eines Schmähgedichts gegen den türkischen Staatschef vorzugehen. Mit der Demonstration wollte der Berliner Pirat und mehrere weitere Teilnehmer für die Freiheit von Rede und Presse demonstrieren.
Doch die Demonstration wurde vorzeitig beendet – und zwar von der Polizei. Bruno Kramm zitierte Teile des Gedichts, das in den letzten Wochen für viele kontroverse Diskussionen in den Medien sorgte, über eine Lautsprecheranlage. Laut der Piratenpartei Berlin kritisierte er in einer Analyse rassistische und sexistische Teile des Gedichts und merkte an, dass „Minderheiten unterdrücken, Kurden treten, Christen hauen“ reale Zustände in der Türkei wären. Doch beendete die Polizei nicht nur die Demonstration, sondern in einem anscheinenden Anfall von vorauseilendem Gehorsam wurde auch Bruno Kramm festgenommen. Ein Anwesender filmte den Vorfall und stellte das Video später auf YouTube:
Zwar wurde Bruno Kramm nach Aufnahme seiner Personalien wieder freigelassen, doch zeigt die Tatsache, dass man überhaupt für die Nutzung eines seiner Grundrechte – die Redefreiheit – polizeilich belangt werden kann, wie schlecht es im Zweifelsfall um die Grundrechte in Deutschland steht. Wenn friedliche Demonstrationen aufgrund von Zitaten aus einem satirischen Gedicht – und mag es auch noch so geschmacklos sein – beendet und Personen festgenommen werden, muss man sich wirklich fragen, wie es um die Rechte der Menschen in diesem Land steht.
Natürlich kann man geteilter Meinung darüber sein, ob das Gedicht gut ist und ob und inwiefern der Rechtsstaat hier zu handeln hat. Seit Wochen gibt es nun darüber schon Diskussionen, auch wir veröffentlichten unterschiedliche Ansichten dazu: Ist die Zulassung der Klage gegen Jan Böhmermann der richtige Weg des Rechtsstaats oder stellt er einen Ausverkauf unserer demokratischen Werte dar?
Nichtsdestotrotz ist eines beängstigend: Jemand kann, anscheinend aufgrund des §103 der „Majestätsbeleidigung“ angeklagt und deswegen auch festgenommen werden. Das sind Praktiken, die man in Deutschland vor vielleicht 100 Jahren noch angewandt hat, die aber in unser Zeit vollkommen Fehl am Platz wirken. Wie kann es sein, dass dieser Paragraph schwerer wiegt als die elementarsten Grundrechte, die den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zustehen?
Auch Bruno Kramm selbst bringt kein Verständnis für die Reaktion der Polizei auf. Zu den Geschehnissen am Freitag sagte er folgendes:
„Während in der Türkei Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze von türkischen Polizisten erschossen werden, Erdogan ein Regime der Angst, Überwachung und des Schreckens errichtet hat, Minderheiten niederknüppeln lässt und Grundrechte mit Füßen tritt, kann er in Deutschland mit dem vorauseilenden Gehorsam der Behörden rechnen, die bereits das Aussprechen der Wahrheiten und türkischen Realitäten als Grund für das Beenden von Versammlungen anführen. Wer Menschenrechtsbrecher zum schmutzigen Erfüllungsgehilfen in einem inhumanen Flüchtlingsdeal macht, braucht sich nicht zu wundern, wenn auch hier Grundrechte fallen. Wir werden auch weiterhin gegen die Missstände in der Türkei demonstrieren.“
Am 23. und 24. April findet die Landesmitgliederversammlung 2016.2 der PIRATEN in Berlin statt. Auch dieser Vorfall wird sicher ein Thema dabei sein.
Wir alle sollten uns währenddessen fragen: Wie weit wollen wir den Ausverkauf unserer Grundrechte noch zulassen?
Mit Verlaub, das war eine selten dumme Aktion von Bruno. Mit dem unreflektieren Rezitieren aud dem Elaborat hat er auch gezeigt, dass er die sprachliche Metaebene auf der Böhmermanns Coup die Mächtigen der Welt vorgeführt hat, ganz einfach nicht verstanden hat. Hätte ja nicht gedacht, dass das peinliche Rumgegurke von Frau Merkel (Zulassung der Strafverfolgung wg §103 StGB, bei gleichzeitiger Ankündigung der Abschaffung desselbigen Paragrafen) noch getoppt werden kann, von den dünnhäutigen Reaktionen im Umfeld des Despoten vom Bosporus ganz zu schweigen.
Dumme Aktion? Mhm. Dacht‘ ich am Anfang auch, weil ich Bruno eben dieses „unreflektierte Rezitieren“ Böhmermanns finsterster Gossensprache unterstellt hab‘. Eine ziemlich ungerechte Unterstellung. Man braucht sich nur die ersten paar Sekunden des Videos `rein zu ziehen.
Bruno hat die „sprachliche Metaebene“ Böhmermanns sehr wohl verstanden. Er erklärt sie sogar, bevor er mit dem Rezitieren beginnt.
Gut – da ich persönlich zwischen echter, guter Satire und, nett gesagt, fragwürdigem unter-die-Gürtellinie-Schlagen a la Böhmermann unterscheide, hätte ich ganz auf das Rezitieren verzichtet. Bezüglich Böhmermann kann ich auch den Apologeten der Meinungsfreiheit nicht komplett folgen. Was der da abgesondert hat, ist nach meinem Geschmack genauso abartig wie manche Nachmittagsshow im Privatfernsehen oder die Gülle, die Zeitung mit den vier großen Buchstaben tagtäglich auf uns herunterkippt. Alles von der Meinungsfreiheit gedeckt?! „Oh wie praktisch“, werden da einige sagen, die unter dem Schutze der Meinungsfreiheit selbst plumpe Lügen weiterhin verbreiten können.
Gut, dass es wenigstens den, von den deutschen Behörden nur müde umgesetzten Paragraphen gegen Volksverhetzung gibt. Hier soll ja die Meinungsfreiheit angeblich enden – tut sie aber nicht.
HIER ist das eigentliche Problem: Während Bruno wg. einer nicht mal in Gänze vollzogenen Verunglimpfung eines türkischen Großmufti von mehreren Uniformierten vom Platz geführt wird, können die Kameraden von ganz rechts mit sehr viel schlimmeren Parolen öffentlich in Erscheinung treten, OHNE dass sie ein Polizist auch nur schief anschauen würde.
Aber nehmen wir’s positiv: Die Berliner Polizei hat sich mit dieser Festnahme definitiv zum Obst gemacht. Und wenn Bruno deshalb vor Gericht muss – er hat selbst schon verlauten lassen, dass er sich darauf freut. Er ist ja Musiker und liebt deshalb die Bühne. Insofern hat er sich einfach in Position gebracht. Vielleicht dann noch eher clevere Aktion?
Obwohl ich selbst nicht so agieren könnte und würde wie Bruno, hat er meine volle Solidarität, in dem was da noch kommen mag.
Ich weiß nicht, ob ihm das bekannt war: nur wenige Tage vorher hab gab es ein Urteil, das genau dieses rezitieren untersagte.
http://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/2016/pressemitteilung.468701.php
In Anbetracht dessen war es entweder ungeschickt oder ein unglücklicher Zufall.
Aus meiner Sicht bleibt der Polizei da keine andere Wahl.
Auch dafür steht ein Rechtsstaat, dass die Polizei Gerichtsbeschlüsse umsetzt.
Frau Merkel hat mittlerweile öffentlich zugegeben falsch gehandelt zu haben.
Das ist schon ein großer Erfolg der Kritiker und hat ihrem Ruf mehr geschadet als jede Demo.
Und Erdogan? Der ist zu unberechenbar und damit zu gefährlich als dass ich über ihn lachen wollte.